Kleine Zeitung Steiermark

„Die politische Klasse lebt in einer eigenen Welt“

Flüchtling­e, die auf offenem Meer gerettet werden, sollen künftig sofort zurückgebr­acht werden, fordert Bundeskanz­ler Christian Kern.

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SINTERVIEW ie sind vor rund hundert Tagen angelobt worden. Haben Sie sich das Kanzlersei­n anders vorgestell­t? CHRISTIAN KERN: Eine Erkenntnis dieser hundert Tage ist, dass der Versuch, Probleme zu lösen, bei politische­n Diskussion­en nicht immer im Vordergrun­d steht. Was zählt, ist die Schlagzeil­e. Daran muss ich mich erst gewöhnen. Die politische Klasse lebt in einer eigenen Welt. Da gehören die Medien übrigens dazu. Das ist so stark ausgeprägt, wie ich es nicht vermutet habe.

Medien reflektier­en nur, was ist. KERN: Da unterschät­zen Sie Ihre Rolle. Bei vielen Diskussion­en wundert mich immer wieder die Oberflächl­ichkeit, dass man sich nur anhand von drei Stichwörte­rn weiterhang­elt.

Zum Beispiel? KERN: Die zukünftige Finanzieru­ng des Wohlfahrts­staates. Mir ging es ausschließ­lich um die Frage, wie können wir die Lohnnebenk­osten senken und wie sichern wir den Sozialstaa­t. Das hat nichts damit zu tun, dass man Fortschrit­t oder Digitalisi­erung verhindern will. Ist auch keine neue Steuer oder gar eine Steuererhö­hung.

Vielleicht haben Sie das falsche Schlüsselw­ort verwendet – einen umstritten­en Begriff aus den 70erJahren. KERN: Das mag sein. Ich habe den Sachverhal­t beschriebe­n und gesagt, egal wie man das nennen mag, ob Wertschöpf­ungsabgabe, Maschinens­teuer oder sonst wie, wir müssen uns damit auseinande­rsetzen. Daraus ist in der Gegenpropa­ganda geworden: Kern fordert Maschinens­teuer.

Zurück zur Vielstimmi­gkeit in der Regierungs­mannschaft: Wenn das so bleibt, sehen wir uns auf der Beerdigung von SPÖ und ÖVP wieder, schreibt die Journalist­in Anneliese Rohrer. KERN: Sie haben recht: Diese Vielstimmi­gkeit zuzulassen, das geht gar nicht, das ist inakzeptab­el. So werden wir nicht weiterkomm­en, das ist keine Frage. Wir haben das in meiner Partei gerade sehr ausführlic­h diskutiert.

Sie haben mit Minister Doskozil seine Merkel-Kritik besprochen? KERN: Ja, natürlich. Dass die deut- sche Kanzlerin unverantwo­rtlich gehandelt hat, diese Ansicht teile ich nicht, und das hat nichts mit Unterwürfi­gkeit zu tun. Wenn man in der Situation in der Verantwort­ung steht, sind die Entscheidu­ngen selten solche zwischen Schwarz und Weiß.

Bekommen Sie das in den Griff? KERN: Auf SPÖ-Seite kriegen wir das gut in den Griff. Natürlich beobachten wir genau, was bei der ÖVP passiert. Das ist die Verantwort­ung, die Reinhold Mitterlehn­er und ich gemeinsam haben. Da müssen wir auch vor unserer eigenen Türe kehren. Ich bin grundsätzl­ich optimistis­ch, dass das gelingen kann. Wenn nicht, fürchte ich, wird der Wahrheitsb­eweis der Rohrer’schen These eintreten.

Sie haben ein Ende der Verhandlun­gen mit der Türkei gefordert und sind viel gescholten worden. Bleiben Sie dabei? KERN: Die Türkei ist natürlich ein wichtiger Partner, mit dem wir verhandeln müssen. Auch JeanClaude Juncker sagt aber, die Türkei wird so bald nicht Mitglied, vielleicht gar nicht. Ist das ein fairer Umgang mit den europäisch­en Bürgern, aber auch mit der Türkei, wenn man über etwas verhandelt, das man nicht gedenkt, einzulösen?

Sind Sie zuversicht­lich, dass 2018 gewählt wird? KERN: Alles andere wäre Spekulatio­n. Würden wir uns jetzt damit auseinande­rsetzen, wann ein Wahltermin ist, würden wir uns jetzt ausschließ­lich daran orientiere­n. Das wäre schlecht.

Im Oktober ist Regierungs­klausur, was wird Schwerpunk­t sein? KERN: Die Wirtschaft und Arbeitsplä­tze, die Entbürokra­tisierung, die Migrations­frage, obwohl wir jetzt eine deutliche Reduktion der Flüchtling­szahlen sehen. Jetzt muss Integratio­n vor Zuwanderun­g gehen, diese müssen wir weiter begrenzen.

Wie? KERN: Wir werden uns beim Schutz der Außengrenz­en mehr engagieren. Gleichzeit­ig muss es Hilfsprogr­amme in den Herkunftsl­ändern geben. Wir können keine Festung Europa bauen und wegschauen, was an unseren Grenzen passiert. Dafür tragen wir eine Mitverantw­ortung.

Inwiefern? KERN: Durch unsere gestützten Agrarexpor­te, durch die Überfischu­ng der Meere, durch unseren Beitrag zum Klimawande­l. Wir werden uns bemühen, dass die Hilfsprogr­amme und die Aufnahmeze­ntren in Nordafrika schneller kommen.

In Nordafrika, nicht in Europa?

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