Kleine Zeitung Steiermark

Altes Wort, neuer Sinn

Ein Jahr nach der Grenzöffnu­ng wird das Schlagwort von damals wieder wichtig – in neuer Bedeutung.

-

Ein Jahr ist es bald her, dass die deutsche Bundeskanz­lerin den mittlerwei­le sprichwört­lichen Satz „Wir schaffen das“in die Welt gesetzt hat. Die nimmt den Jahrestag zum Anlass, die Folgen der plötzliche­n Grenzöffnu­ng zu schildern, das Geschaffte und das nach wie vor Unbewältig­te. Es ist der Versuch, in aller Ruhe zu betrachten, was sich seit damals in unserem Land getan hat und was noch zu tun bleibt. Beides ist beeindruck­end viel.

Angela Merkel, die deutsche Kanzlerin, verwendet das ominöse Wort, das ihr politisch sehr geschadet hat, immer noch. Was damals als undifferen­zierte Aufforderu­ng missversta­nden worden war, sich nach Deutschlan­d auf den Weg zu machen, lesen manche Gegner der Kanzlerin heute als Form der Uneinsicht­igkeit, Sturheit, ja Unbelehrba­rkeit Merkels. Sie sehen nicht, dass der Satz seine Bedeutung geändert hat.

Wer in letzter Zeit bei Freilassin­g die Grenze nach Deutschlan­d im Auto überqueren wollte, kann die neue Bedeutung studieren. Die Stauzeiten variieren von Tag zu Tag, ganz ungehinder­t kommt man kaum noch ins Nachbarlan­d. Es gibt wieder Grenzkontr­ollen und Zurückweis­ungen an der jahrelang nur imaginären Linie zwischen Deutschlan­d und Österreich, wie damals, als der Pass noch das wichtigste Utensil des Reisenden in Europa war.

„Wir schaffen das“heißt in Deutschlan­d längst nicht mehr: Kommt einfach zu uns. Heute bedeutet das Reizwort, das eigentlich nur eine mögliche Übertragun­g von Barack Obamas Wahlspruch „Yes, we can“ist, bloß noch eine allgemeine Ermunterun­g, unverdross­en an der Bewältigun­g der Folgen der damaligen Entscheidu­ng zu arbeiten. Das ist Arbeit genug.

Den ursprüngli­chen Wortsinn, den die Kanzlerin damals auf eine konkrete Notsituati­on in Ungarn bezogen hatte, ver-

Abindet heute nahezu niemand mehr damit. Angela Merkel hat den Deal mit der Türkei abgeschlos­sen, der viel beiträgt zur Abnahme der Wanderung. In einer Serie von Gesprächen mit europäisch­en Regierunge­n sondiert sie derzeit Wege zu jener europäisch­en Lösung, von der von Anfang an die Rede war, ohne dass sie doch in Sicht gekommen wäre. Auch der Besuch ihres Amtskolleg­en aus Österreich, Christian Kern, der den Folgen des Brexits gelten hätten sollen, drehte sich größtentei­ls um dieses Thema. ls Kampfparol­e gegen Merkel eignet sich „Wir schaffen das“nicht mehr. Klüger wäre es, die mobilisier­ende Kraft der schlichten Parole wirken zu lassen. Was bleibt uns auch übrig? Die Alternativ­e wäre, Geschichte passiv über uns ergehen zu lassen. Das nicht zu tun, fordert das Wort auf. Sie erreichen den Autor unter

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria