Verdunkelt und verheimlicht“
Der Soziologe Ingolfur Blühdorn sieht den Freihandelspakt TTIP, Brexit und Ein-EuroJobs kritisch. Wachstum sei nur auf Kosten anderer möglich.
Sie betrachten Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise und die Krise der Demokratie unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit. Was hat diese damit zu tun? INGOLFUR BLÜHDORN: Ich sehe Nachhaltigkeit nicht nur aus ökologischer, sondern auch aus wirtschaftlicher, politischer und kultureller Perspektive. Unsere gegenwärtigen Lebens- und Wirtschaftszusammenhänge lassen sich aus den verschiedensten Gründen nicht auf Dauer stellen. Die jüngste Wirtschaftskrise und die aktuelle Migrationskrise zeigen das deutlich. Diese Krisen waren keineswegs so unvorhergesehen, wie oftmals behauptet wird.
Wieso haben sie Europa dann so unvorbereitet getroffen? BLÜHDORN: An frühzeitigen Warnungen hat es nicht gefehlt. Aber die Vorbereitung hätte Geld gekostet und unbeliebte Veränderungen gefordert. Da scheint es oft einfacher, Ist-Zustände zu stabilisieren, obwohl bekannt ist, dass sie auf Dauer nicht haltbar sind. Ich nenne das die „Politik der Nicht-Nachhaltigkeit“.
Geht die Flüchtlingskrise auf die Rechnung der Globalisierung? BLÜHDORN: Die Globalisierung hat dazu geführt, dass soziale Ungleichheiten sich wesentlich verstärkt haben. Und der Wohlstand der Reichen wurde auch für alle sichtbarer – eine logische Folge der Informations- und Medienwelt. Ungleichheit, Vergleich und Konkurrenz zerfressen den inneren und sozialen Frieden.
Was gewinnen Sie der Idee der „Ein-Euro-Jobs“ab? BLÜHDORN: Integration über den Arbeitsmarkt ist problematisch. Bereits jetzt ist es so, dass wir keinen Arbeitsmarkt mehr haben, der allen ein ausreichendes Einkommen und eine erfüllende Beschäftigung sichert. Das wird sich im Zuge der digitalen Revolution verstärken. Außerdem stellt sich die Frage, ob mit Ein-Euro-Jobs wirklich soziale Kontakte geschaffen und der Spracherwerb gefördert wird. Wie integrierend sind Tätigkeiten wie Müll sammeln oder Gartenpflege?
Was ist Ihre Position zu Handelsabkommen wie Ceta oder TTIP? BLÜHDORN: Ein wesentliches Problem liegt darin, dass hier aktiv verdunkelt und verheimlicht wird und den Bürgern die Urteilsfähigkeit aberkannt wird. Die Politik müsste alles daransetzen, so transparent wie möglich zu sein. Bestimmend ist aber die Angst, dass wirtschaftliche Interessen nicht mehr bedient werden könnten. Dennoch müssen solche Abkommen unbedingt in demokratischen Parlamenten verhandelt und legitimiert werden. Vor allem muss jederzeit das Primat der Politik gesichert bleiben. Wenn Konzerne die Macht bekommen, sich über Staaten zu stellen, ist das inakzeptabel – und wird früher oder später populistische Gegenreaktionen auslösen.
Welches wirtschaftliche steckt hinter dem Brexit? BLÜHDORN: Die eben angesprochene Politik der Nicht-Nachhaltigkeit funktioniert unter anderem nach dem Prinzip der Entsolidarisierung zugunsten von Wettbewerbsvorteilen. Der Brexit ist genau das. Es wird die Verpflichtung auf europäische Regeln aufgekündigt, in der Absicht, sich dadurch Wettbewerbsvorteile zu sichern.
Ein Irrglaube? BLÜHDORN: Die Briten werden kurzfristig Vorteile haben, zumindest kleine Teile der britischen Gesellschaft. Sie diskutieren zum Kalkül Beispiel, ihre Steuersätze für Unternehmen deutlich zu senken, um alles Europäische zu unterbieten. Das Wachstum wird auf Kosten der Europäer erfolgen.
Wäre Österreich mit einem „Öxit“dann nicht gut beraten? BLÜHDORN: Nein, diese Wettbewerbsvorteile sind von kurzer Dauer und führen zu einem Wettrennen um die niedrigsten Sozialund Umweltstandards, d. h. die niedrigste Lebensqualität für die breite Masse der Bürger.
Wo sehen Sie Wachstumschancen für die Wirtschaft? BLÜHDORN: Das Paradigma des Wachstums steht auf der Kippe. Es beginnt sich abzuzeichnen: Es hat sich ausgewachsen. Zumindest besteht keine Hoffnung mehr auf Wachstum, von dem alle Teile der Gesellschaft profitieren. Die alte Annahme, dass, was für die Wirtschaft gut ist, auch für die Gesellschaft insgesamt gut ist, gilt heute nicht mehr. Bei wesentlichen Teilen der Bevölkerung kommt das Wachstum nämlich nicht mehr an.
Mit welchen Folgen? BLÜHDORN: Wachstum war bisher unser Rezept zur Sicherung des sozialen Friedens und Zusammenhaltes. Heute bedeutet das Festhalten am Wachstumsprinzip jedoch, dass sich die soziale Schere stetig weiter öffnet und die sozialen Spannungen zunehmen. Denn das Wachstum für die einen bedeutet „Schrumpftum“für die anderen. Die Frage, wo wir weiter wachsen können, ist also verfehlt. Die Ökonomen sind sich einig, dass wir auf Jahrzehnte kein signifikantes Wachstum mehr haben werden. Es stellt sich also die Frage, wie können wir es unter diesen Bedingungen schaffen, den sozialen Frieden zu erhalten, statt den Konflikt dauernd neu zu schüren.
Wie lautet Ihre Antwort? BLÜHDORN: Bei all jenen, die in dieser völlig neuartigen und sehr schwierigen Situation schnelle und einfache Lösungen verspre- chen, sollte man skeptisch sein. Der erste Schritt muss sein, dass wir uns die verheerenden Folgen klarmachen, die die fortgesetzte Politik der Nicht-Nachhaltigkeit schon jetzt hat. Das ist der aussichtsreichste Weg, die politische Vorstellungs- und Gestaltungskraft zu beflügeln.