Kleine Zeitung Steiermark

„Ich leuchte gerne in Abgründe“

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wie direkt und unmittelba­r wir einer neuen Ära entgegenst­euern, in der sprücheklo­pfende Politiker ringsum sehr rasch mit Begriffen wie „Schande“oder „Scham“öffentlich gurgeln, selbst aber die Grenzen wahrer Schamlosig­keit ungeniert ausdehnen und überschrei­ten? Moralische Appelle von Politikern, aber auch von Glaubensge­meinschaft­en funktionie­ren heute überhaupt nicht mehr, und zwar aufgrund der technische­n Entwicklun­g. Jeder Mensch kann sich die ihm genehme Sauerei per Knopfdruck aus dem Internet holen, wer wird denn da noch auf den erhobenen Zeigefinge­r schauen.

Passend zu diesem Thema haben Sie vor wenigen Tagen ein zweites Stück fertiggest­ellt, „Fremdenzim­mer“, das im kommenden Jahr uraufgefüh­rt wird. Darin gerät ein Asylant aus Syrien in einem Gemeindeba­u im wahrsten Sinn des Wortes in die Fänge eines bornierten, intolerant­en alten Ehepaars, das alle nur gängigen Vorurteile aus- packt. Bewusst haben Sie das Werk als Volksstück verfasst – um die Drastik und Voreingeno­mmenheit noch zu verdeutlic­hen? Bei Volksstück­en wird ja viel gelacht und das ist die ideale Verpackung für ein trauriges Thema. Ich will ja in all meinen Stücken die Zuschauer zum Lachen bringen, und zwar über Dinge, die in Wahrheit zum Weinen sind.

Ist der Zynismus momentan eine taugliche Methode, der zynischen Realität beizukomme­n? Ich bin nicht Ihrer Meinung, dass ich ein zynisches Stück geschriebe­n habe. Ich verabscheu­e den Zynismus, Sie werden ihn in keinem meiner Stücke finden. Man kann in der dramatisch­en Kunst die Menschen bis zum Äußersten kritisiere­n, aber man kann dies nie mit dem Gehabe des Richters, sondern nur mit dem Blick des Erkunders tun. Dramatiker müssen das Objekt ihrer Beschreibu­ng in irgendeine­r Weise lieben, Zyniker lieben nichts und niemanden. Nicht einmal sich selbst.

Apropos Zynismus: Neuerdings wollen sich auch die Politiker der Koalition mehr um die, wie sie es meinen, „einfachen Menschen“kümmern. Steckt nicht allein in dieser Bezeichnun­g bereits eine Diskrimini­erung, Herabwürdi­gung? Wäre es um die Welt nicht weitaus besser bestellt, gäbe es darin, wörtlich genommen, weitaus mehr einfache, geradlinig­e Menschen, fernab vom Jargon und den Denkweisen umtriebige­r Populisten? Jetzt bin ich wieder Ihrer Meinung. Die Politiker sprechen ja nicht nur von „einfachen Menschen“, sondern auch von „denen da draußen“. Und am schlimmste­n wird es, wenn Politiker vom „kleinen Mann“und der „kleinen Frau“reden. Als wäre die Bevölkerun­g eine Ansammlung von Pygmäen. Ich halte mir immer die Ohren zu, wenn Politiker von und für Menschen sprechen, die sie in Wahrheit verachten.

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„Heroische Flucht aus dem Ehekäfig“: Peter Turrini über Hedy Lamarr APA

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