Ende einer besonderen Beziehung
Das Europaparlament hat sich in der Frage um die Nachfolge von Martin Schulz an der Spitze des Plenums heillos zerstritten.
Ein Parlament ist ein Ort demokratischer Selbstvergewisserung. So geht es um mehr als um Ämter und Personen, wenn heute das Europaparlament zur ersten Sitzung im neuen Jahr zusammentritt. Einziger Beratungspunkt: Wahl eines Präsidenten. Beginn: neun Uhr. Ende: offen. Vielleicht erst am Mittwoch. Beim scheidenden Parlamentschef Martin Schulz hatte das noch im ersten Wahlgang geklappt. Das sagt viel über die anstehende Kür. Eine Richtungswahl steht an, es geht um das Zittern in Europas Parteienlandschaft, die schwierige Selbstfindung des Parlaments und das institutionelle Verhältnis zwischen Abgeordneten, Kommission und dem Rat der Mitgliedsstaaten in der sich neu sortierenden EU.
Ein Blick auf die zerfahrene Lage zeigt, wie gefährlich die Beziehung ist. War es überhaupt Liebe? Am Anfang jedenfalls stand eine Revolution. Im Sommer 2014 putschte das Eu-parlament Jean-claude Juncker, den Sieger der Europawahl, an die Spitze der Eu-kommission. Die Missgunst der Regierungschefs in Kauf nehmend, die das als Anmaßung empfanden. Ein parlamentarischer Erfolg. Der Preis: eine Große Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten sowie Liberalen. Im Gegenzug zur Kür des Christdemokraten Juncker bestätigte das Parla- ment den Spd-abgeordneten Martin Schulz für weitere zweieinhalb Jahre im Amt. Eine politisch-inzestuöse Beziehung begann. Fortan lief es in Brüssel so: Juncker und Schulz regelten die Dinge zwischen Kommission und Parlament. Und die Dinge zwischen Christ- und Sozialdemokraten gleich mit. „Schuncker“hieß das. Im Plenum wuchs der Unmut. Europas Abgeordnete liebten den Aufstand, wechselnde Mehrheiten und die damit verbundene Freiheit der Gestaltungsmacht. Jetzt sollten sie eine Kommission tragen. Manch ein Abgeordneter fühlte sich entmündigt. „Schluss mit dem System Schulz“, klagten selbst Sozialdemokraten. Jetzt heißt es umdenken. „Ich will Präsident aller Abgeordneten sein“, so Antonio Tajani, Kandidat der Christdemokraten. Von „Momenten, in denen auch ich frustriert gewesen bin“, sprach Gianni Pittella, Fraktionschef der Sozialdemokraten und ebenfalls Kandidat, über den geringen Einfluss. Ein Systemwechsel steht an. Schwache Spitze, starkes Parlament. Repräsentieren statt regieren, heißt das für den neuen Chef. Einzig der dritte starke Bewerber, der Liberale Guy Verhofstadt, fragte: „Wer braucht einen Protokollchef an der Spitze des Plenums?“Seine Antwort: „Niemand!“So viel Ego schmä- Eu-parlamentspräsident Martin Schulz verlässt Brüssel und geht nach aus Brüssel Von unserem Korrespondenten lert seine Chancen. Nur nicht den Schulz machen. Für die meisten Abgeordneten zählt: Es lebe das eruptive Mandat!
Schulz hätte gern weitergemacht in Brüssel. Auch Juncker setzte sich für ihn ein, gar mit Rücktritt soll er gedroht haben. Alles nützte nichts. Viele Christdemokraten fürchteten Schulz als Frontmann für die Europawahl 2019. Und sie pochten auf einen – lange bestrittenen – Vertrag, der ihnen zur Hälfte der Legislatur das Amt des Parlamentschefs zusicherte. So floh Schulz nach Berlin. In Brüssel suchten die Christdemokraten ziellos nach einem Kandidaten. Ihr Fraktionschef, der Csu-politiker Manfred Weber, zögerte, Schulz nachzufolgen. Ihm entglitt die Lage. Nach Schulz’ Abgang kündigte Pittella die Koalition und rief sich zum Kandidaten aus. Entgegen allen Absprachen. Weber sondierte die Lage für eine eigene Kür. Zu spät. Netzwerker Tajani hatte die Sache schon für sich geregelt. Auch für parteiübergreifende Konsenskandidaten wie die Irin Mairead Mcguinness oder den Österreicher Othmar Karas war es zu spät. Nun droht Tajani. Der Mann ist Ex-eu-kommissar. Und Gefolgsmann Silvio Berlusconis. Bis zu acht Kandidaten rangeln um die Nachfolge. Gewählt wird in vier Wahlgängen. In den ersten drei Runden ist die absolute Mehrheit nötig. Notfalls folgt eine Stichwahl zwischen den zwei Stimmenstärksten, dabei reicht die einfache Mehrheit. Erwartet wird ein Finale zwischen Tajani und Pittella.