Europa wird nicht fallen
Fortsetzung von Seite 9 Frühling, der Bürgerkrieg in Syrien, die offene Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine, die Flüchtlingskrise, der Brexit, die neuen Cyberkriege und die Wahl Trumps dürfen als die herumliegenden Trümmer einer zu Ende gehenden Weltordnung betrachtet werden. Das Neue ist noch nicht sichtbar. Keine Macht kann die bisherige Rolle der USA übernehmen. In diesen gefährlichen Zeiten des Übergangs müssen wir auf einige bewährte Halterungen zurückgreifen. Europa wird aber nicht fallen. François Fillon kann in Frankreich gewinnen. Die Große Koalition in Deutschland wird fortgesetzt. Matteo Renzi hat zwar das Referendum in Italien verloren, wird aber als Premier wiederkommen. So können wir Stabilität in den drei größten Eu-staaten erreichen. Angesichts des Zerfalls der alten Ordnung muss die EU ihre Prioritäten neu denken und ihre Tagesordnung umschreiben. Jenseits von Nationalismus und Europaföderalismus müssen sich die neuen Verträge auf gemeinsame Wettbewerbs-, Außen-, Sicherheits- und Flüchtlingspolitik konzentrieren.
Die Nation bleibt bedeutend. Das „heilige Lied“vom Abgesang des Nationalstaates kann in der Mottenkiste des 20. Jahrhunderts verschwinden. Trotz aller Politikverdrossenheit vertrauen die Menschen ihren Parlamenten mehr als den Brüssler Institutionen. Obwohl 74 Prozent der Europäer eine aktivere Rolle der EU in der Welt befürworten, wollen sie für Fragen des täglichen Lebens einen nationalen Verantwortlichen. So wird die Ausformung neuer nationaler Gestaltungsmöglichkeiten in der EU zum Gebot der Stunde. Die von Kanzler Christian Kern geforderte „differenzierte“Arbeitsmarktöffnung dient als gutes Beispiel. Denn abstrakte Normen, die dem einen zu viel schaden und dem anderen zu wenig helfen, zersetzen die EU.
Gemeinsamkeit setzt Solidarität voraus. Kultur und Politik des Neoliberalismus haben eine Blutspur sozialer Zerstörung hinterlassen. Himmelschreiende Ungleichheit und Massenarbeitslosigkeit gelten als Ergebnis einer falschen Ideologie. Die Vergiftung des öffentlichen Klimas durch Krawallpresse, Social Media, Fake News und Cyberkriege bildet die Grundlage der postfaktischen Gesellschaft. Die Diskreditierung von Politik, Institutionen und Politikern entzieht der Demokratie ihre Grundlage. Dabei wären Transparenz, Verantwortung und Plausibilität geeignetere Elemente, um Staat und Gesellschaft wieder zusammenzuführen.
Am wichtigsten scheint mir aber die Neuordnung der ökonomischen und sozialen Zusammenhänge, die die Unterschiede wieder in erträgliche Dimensionen leitet. Als politisch Gleiche verstehen sich nur Menschen, deren Reichtumsunterschiede gewisse Grenzen nicht überschreiten. Sowohl Europa als auch die Nation setzt einen Zusammenhalt voraus, den es nur unter politisch Gleichen gibt.