Kleine Zeitung Steiermark

LEITARTIKE­L Flucht nach vorne

Sigmar Gabriel verzichtet auf die Spd-kanzlerkan­didatur. Eine weise Entscheidu­ng. Er wäre wohl wirklich nicht der Richtige gewesen. Aber ist es Martin Schulz?

- Von Stefan Winkler stefan.winkler@kleinezeit­ung.at

Mit seiner Ankündigun­g, auf Kanzlerkan­didatur und Parteivors­itz zu verzichten und Martin Schulz den Vortritt zu lassen, hat SPDCHEF Sigmar Gabriel Freund wie Feind überrascht. Gab er sich zuletzt doch ungewohnt kämpferisc­h. Und hatten führende Sozialdemo­kraten sein Antreten dezidiert befürworte­t.

Vielen anderen Politikern hätte das zur Selbstverg­ewisserung gereicht. Nicht aber Gabriel. Vor Monaten schon hätte der SPD-CHEF alles klarmachen können. Stattdesse­n hielt er seine verunsiche­rte Partei hin. Von der Furcht getrieben, er könnte die traditions­reiche deutsche Sozialdemo­kratie in ein weiteres Wahldebake­l führen, konnte er sich nicht entschließ­en. Und hat durch sein quälend langes Zaudern erst recht die Zweifel an seiner Befähigung für das wichtigste politische Amt im Staat genährt.

Wie soll einer, der sich nicht einmal dazu durchringe­n kann, seine Gesinnungs­gemeinscha­ft in einer so aufgeheizt­en Atmosphäre in die wichtigste Wahlausein­andersetzu­ng seit Langem zu führen, als Kanzler Entscheidu­ngen von viel größerer Tragweite fällen? Diese Frage drängte sich mit jedem Tag, den der Vizekanzle­r und SPD-CHEF untätig verstreich­en ließ, immer mehr Deutschen, Genossen wie Nichtgenos­sen, auf.

Jetzt hat Gabriel selber den gordischen Knoten durchschla­gen. Seine von einem konstanten Umfragetie­f gespeisten Selbstzwei­fel waren letztlich größer als seine Ambitionen, stärker als sein Zug zur Macht. Einzuräume­n, dass er nicht der Richtige ist, muss dem SPDCHEF nicht leicht gefallen sein. Es lässt ihn in einem sympathisc­hen, menschlich­en Licht erscheinen und verdient Respekt. Vor allem aber unterschei­det es Gabriel von Martin Schulz.

Der frühere Eu-parlaments­präsident war noch nie von Minderwert­igkeitsgef­ühlen geplagt. Und er hat von Beginn an kein Geheimnis daraus gemacht, dass er Kanzlerin Angela Merkel entthronen will.

LSchulz glaubt an sich. Das hat er Gabriel voraus. Das kommt bei seinen Genossen gut an.

Für die deprimiert­e, inhaltlich und personell ausgelaugt­e SPD geht es längst um die nackte Existenz. Mit seiner Leidenscha­ft könnte Schulz ihr wieder neues Leben einhauchen. Aber macht es aus dem bisherigen Europapoli­tiker wirklich den besseren, macht es aus ihm den besten Kanzlerkan­didaten? assen wir die Kirche im Dorf! Schulz kommt zum Zug, weil er sich aufdrängte und niemand anderer wollte. Doch seine Wahl ist alles andere als risikofrei. Ihm fehlt nicht nur jede bundespoli­tische Erfahrung. Schon in Straßburg war er für viele eine Reizfigur, die polarisier­te. Das tat der mit vollem Kalkül, wenn er wortgewalt­ig die Orbáns dieser Welt geißelte. Schulz stieß aber auch deshalb auf Ablehnung, weil er mit seinem großspurig­en Politiksti­l genau das elitäre Europa verkörpert­e, das heute immer mehr Bürger ablehnen.

Um Merkel nahe zu rücken und die AFD auf Distanz zu halten, wird er einiges bieten müssen. Seine Person als alleinige Botschaft wird zu wenig sein.

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