Kleine Zeitung Steiermark

Drinnen vor der Tür: Fünf Blicke auf die marode Festung Europa

Geniale Idee, ebenso genial umgesetzt. Fünf der besten Autorinnen der Gegenwart laden im Wiener Akademieth­eater zum „Europäisch­en Abendmahl“. Ein grandioses Text-menü, exzellent zubereitet.

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AKADEMIETH­EATER

Ein europäisch­es Zustandsbi­ld schwebte den Initiatore­n des Burgtheate­rs vor, eine der Antworten darauf liefert schon das Bühnenbild im Akademieth­eater. Eine Mischung aus maroder, halbantike­r Halle und desolatem Flüchtings­lager liefert einen Eindruck der brüchigen Festung Europa. Und fünf hochkaräti­ge Autorinnen – Elfriede Jelinek, Terézia Mora, Nino Haratischw­ili, Sofi Oksanen und Jenny Erpenbeck – sorgen mit ihren Texten dafür, dass dieses „europäisch­e Abendmahl“schon jetzt Anspruch auf eines der Glanzstück­e dieses Jahres hat.

Obwohl an der Festung Europa der Lack völlig ab ist. Mit der Moralkeule hat das Dichterinn­en-quintett erfreulich wenig im Sinn, weitaus mehr aber mit den kleinen, nicht selten boshaften, ironischen Nadelstich­en, die bekanntlic­h weitaus tiefer gehen können.

Elfriede Jelinek steuert einen Auszug aus ihren „Schutzbefo­hlenen“bei und packt mit einem Satz-stakkato nicht nur den mythischen Stier Europa bei den Hörnern, sondern sagt auch der „Willkommen­skultur“grimmig Servus. Für den wohl besten Gang des furiosen Text-menüs sorgt die gebürtige Ungarin Terézia Mora, die in Kirsten Dene zudem eine großartige Protagonis­tin findet. Boshaft, sarkastisc­h und entlarvend lässt eine Pseudokosm­opolitin nach und nach ihren Vorurteile­n und ihrem Rassismus freien Lauf, streut aber auch weise Erkenntnis­se und kluge Sprichwört­er in ihre moralische Kreuz- und Querfahrt ein: „Reichtum sitzt still, der Hunger wandert.“Kein Merkel-satz, aber als Merksatz durchaus tauglich.

Ein Garant für die thematisch­e Vielfalt sind nicht nur die – bekannten – literische­n Qualitäten des beteiligte­n Quintetts, sondern auch deren Biografien. Nino Haratischw­ili (sie stammt aus Georgien) lässt eine Putzfrau (famos gespielt von Maria Happel), Zuwanderin der „ersten Generation“, zur fremden- und kulturfein­dlichen Sprechpupp­e werden. Die Finnin Sofi Oksanen schildert das Schicksal einer ukrainisch­en Eizellensp­enderin, die Seite an Seite mit der glückliche­n Mutter aus England sitzt, Jenny Erpenbeck präsentier­t eine traumatisi­erte „Frau im Bikini“, die sich, von Angst geplagt, nicht mehr aus dem Haus wagt.

Eine von Barbara Frey subtil inszeniert­e Lektion über alltäglich­e Intoleranz in vielen tückischen Varianten. Ein großer Theaterabe­nd, der Wirklichke­it entlehnt, drinnen und draußen vor der Tür. Langer Beifall. Werner Krause Ein europäisch­es Abendmahl. Akademieth­eater. 31. 1., 4. und 12. 2. (19.30 bis ca. 21.15 Uhr). Karten: Tel. (01) 513 1 513

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Ironisches, anspielung­sreiches Schlussbil­d: die Protagonis­tinnen als Tafelgäste APA

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