Der Schwebendmacher
Folge 12: André Hellers Lust, in himmlische Regionen abzuheben, ist im wahrsten Sinn des Wortes grenzenlos. Ein Beleg dafür, wie man der emotionalen Selbstfesselung mit Phantasie begegnet.
Der kleine Ort Blaas, den André Heller in seiner Erzählung „Das zerrissene Märchen“beschreibt, findet sich auf keiner Landkarte. Es ist ein fiktiver, mythologischer Ort. Zwar heißt es, dass dort „seit Menschengedenken ... der Wind das Sagen“habe, doch dieser Wind durchlüftet den Ort nicht, sondern sondert ihn ab vom Rest der Welt. Eine bleierne Gleichförmigkeit bestimmt das Leben der Bewohner. Sie stehen im Bann ritueller Abläufe, die sie nie hinterfragen. Alles „ist, wie es ist, in Blaas“, und von derlei zwanghaftem Beharrungsvermögen scheint sogar die Landschaft infiziert zu sein: „Der Schatten des Hochwaldes bedeckt überall den Boden, wie eine angenagelte Nacht.“
Hellers Werk kommt immer wieder auf dieses bedrückende Szenario zurück. Wo lastender Stillstand ins Bild gefasst werden soll, gedeihen düstere Topografien und Wetterstimmungen. Blaas kann überall sein, auch und vor allem in Hellers „haßgeliebter Heimatstadt Wien“. In der autobiografischen „Kindergeschichte“fällt die Firmung des Icherzählers buchstäblich ins Wasser. Es regnet so stark, dass nicht einmal die Spitze des Stephansdoms zu sehen ist, und der Hinweis, dass der Himmel „mit grauem Blech ausgeschlagen“sei, gerät zum Indiz einer lähmenden Gemütstrübung.
Ähnlich präsentiert sich das Wetter an einem Märztag des Jahres 1953 im Roman „Das Buch vom Süden“: „Ein Tag erobert von der Farbe grau war es, LITERATURGESCHICHTEN,
Emit einem Himmel, als hätten ihn Handwerker mit Zinnplatten vernagelt. Darunter reisten Spatzen und Krähen und vermischten sich immer wieder, ebenfalls grau in grau, mit dem Rauch der Schornsteine, dem die Kälte die Anmutung von felsiger Schwere gab.“
Heller lädt die Bildkraft solcher Beschreibungen mit einem Sinn auf, der über den bloßen Wetterbefund hinausreicht. Das beklemmend Fahle grauer, regnerischer Tage entspricht dem Grau einer fahlen Lebensform. Weil Blaas überall sein kann, sind auch seine Bewohner überall anzutreffen. Im „Schattentaucher“etwa, einer Folge lose gefügter Erzählskizzen, ist von einem Mittelschulprofessor für Chemie und Physik die Rede, dessen ganzes Streben darauf zielt, „möglichst unbehelligt ein spätes Grab zu erreichen“. „Da es für das Lachen keine Formel gibt“, meint er, „lachte ich nicht, und da es für das Weinen keine Formel gibt, weinte ich nicht. Ich war ein gewöhnlicher Stoffwechsler unter dem Protektorat meines akademischen Titels. Tag für Tag war alles, wie es immer war. Und immer war immer.“in Widergänger dieses Lehrers ist der Papierindustrielle Laszlo Tözs in der Erzählung „Olga Cator“. Es kennzeichnet ihn schon, dass er aus Ödenburg stammt, denn er staunt nicht gern und will stets wissen, woran er ist. Deshalb fürchtet er, im chaotischen „Flirren“Venedigs „verloren zu gehen“. Auf solche Unwägbarkeiten scheinen sich die alten Herren in der
D„Die beiden Reiter“gar nicht erst eingelassen zu haben. Sie sind lebenslang „jeder wesentlichen Verantwortung, jedem Abenteuer und vor allem jedem tiefen Gefühl ausgewichen“, und dieses anhaltende „Sichtotstellen“hat bewirkt, dass sie jetzt wie Reptilien aussehen, „die sich an manchen Sonnentagen auf den niedrigen Kaimauern von Uferpromenaden“niederlassen, „um schwer atmend überschüssige Flüssigkeit an der Stirnhaut zu verdampfen“. er drastische Vergleich lässt die Verachtung erkennen, die Heller dieser lebensblinden Selbstbeschränkung entgegenbringt. Sie ist der Reibebaum, an dem er sein Leben und sein künstlerisches Tun schärft. Schon früh übt er den Widerspruch gegen ein blasses, blutarmes Mittelmaß, das seine Geltung absolut setzen will.
In der Erzählung „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“sind es die rigiden Zwänge eines Internats, die in dieses Mittelmaß einüben sollen, doch sie verfangen nicht, weil der Zögling weiß, dass er „anderes“mit sich vor hat: „In einem Asbest-anzug als erster Mensch in das Innere des Vesuvs hinabzusteigen, um in der glühenden Lava nach Feuerfischen zu suchen, war einer meiner Pläne. Inhaber des Eichkatzl-fütterungsmonopols im Park von Schönbrunn ein anderer, und der dritte lautete: Weltmeister im Unsichtbarsein.“
Diese hochfahrenden Wünsche sind Ausdruck einer Haltung, die der emotionalen und geistigen Selbstfesselung mit entfesselter Phantasie begegnet. Als deren sinnfälligste Verkörperung gelten seit jeher Narren, Verrückte, vermeintlich Geisteskranke. So eine „Verrückte“ist beispielsweise Anna Ems in Hellers erstem Theaerzählung