Ist Frankreich überhaupt reformierbar?
Für sein Erneuerungsprojekt wird Emmanuel Macron sich in der Kunst des Unmöglichen versuchen müssen.
DANALYSE. ie Franzosen nennen es état de grace. Gemeint ist die Schonfrist, die einem neuen Regenten zuzugestehen ist. Wobei état de grace freundlicher klingt. Gnade, Anmut, Liebreiz steckt darin, mithin auch der Zauber, der allem Neuen innewohnt. Aber in der französischen Politik stehen die Zeichen auf Sturm. Er hat hinweggefegt, was eine fest gefügte Parteienlandschaft schien, hat Sozialisten und Konservative in der Präsidentschaftsstichwahl zum Zuschauen verdammt. Und er verschont auch Frankreichs neuen Präsidenten nicht.
Keine 24 Stunden nach der Wahl bläst Macron der Wind heftig ins Gesicht. Bevor der sozialliberale Erneuerer auch nur offiziell das Amt angetreten hat, sind Gewerkschafter auf die Straße gegangen. Die geplante Arbeitsmarktreform wird mit uns nicht zu machen sein, lautet die Botschaft. Ein wenig länger hätten die Gewerkschafter die Franzosen schon träumen lassen können von dem, was Macron nach seinem Wahlsieg in der Nacht zum Montag verheißen hatte: eine mit sich selbst versöhnte Gesellschaft, die mutig überfällige Reformen in Angriff nimmt und voller Zuversicht die Zukunft angeht.
Nicht mit uns, schallte es dem 39-Jährigen entgegen. Und die Gewerkschaftsoberen sind nicht die Einzigen, die die Messer wetzen. Die Wahlverlierer tun es auch. Von Jean-luc Mélenchons Unbeugsamem Frankreich über die Sozialisten und Konservativen bis hin zum Front National – alle hoffen sie, bei den Parlamentswahlen im Juni verlorenes Terrain zurückzuerobern, dem Novizen Grenzen aufzuzeigen. Linke wie Rechte sind entschlossen, den von der Mitte aus in beide Richtungen wildernden Neuling zu vereinnahmen und an seiner Stelle Politik zu machen.
François Baroin, der für die konservativen „Republikaner
Dden Parlamentswahlkampf organisiert, sieht sich bereits als Macrons Premier. Und sollten die „Republikaner“in der Nationalversammlung die Mehrheit erzielen, wird es auch so kommen. Gegen das Parlament kann kein Präsident regieren. Ob die zum Teil politisch wenig erfahrenen Kandidaten von Macrons Bewegung „En Marche!“den Polit-profis der Traditionsparteien Paroli bieten können, ist fraglich. ie von Macron beschworene Revolution droht bereits im Keim erstickt zu werden. Nach fünf Jahren Stillstand unter dem scheidenden Präsidenten François Hollande zeichnet sich eine Totalblockade ab. Sie ist umso mehr zu befürchten, als die erste große Reform, die Macron in Angriff nehmen will, an nicht vernarbten Wunden rührt. In der Hoffnung, die Erwerbslosenquote zu senken, hatte sich Hollande im Vorjahr an einer Flexibilisierung des Arbeitsmarkts versucht. Das Ergebnis: Massenproteste, blockierte Treibstofflager, eine ausgebeinte Rumpfreform.
Hinzu kommt, dass der neue Präsident wenig Rückhalt hat. Anders als das Wahlergebnis suggeriert, hat er keineswegs die Mehrheit des Volkes hinter sich gebracht. Ein Drittel der Wähler hat sich verweigert, hat ungültige, weiße oder gar keine Stimmzettel abgegeben. Ein weiteres Drittel hat für die Rechtspopulistin Marine Le Pen votiert, die so ziemlich alles