Das niemals endende Werden Europas
ESSAY. Der britische Historiker Timothy Garton Ash wurde mit dem Karlspreis ausgezeichnet. In seiner Dankesrede erinnerte er an die Einmaligkeit des Einigungsprojekts und warnte vor Erstarrung.
Ich fühle mich tief geehrt, in diesem Jahr mit dem Internationalen Karlspreis ausgezeichnet zu werden, und ich nehme diese Ehrung als englischer Europäer entgegen. In diesen Tagen ist so mancher ein wenig überrascht von der Kombination: englischer Europäer. Doch immerhin war einer der wichtigsten Berater Kaiser Karls des Großen ein Angelsachse, nämlich der Gelehrte Alkuin von York. Meine Universität in Oxford ist seit 900 Jahren eine europäische Universität. Eine Geschichte Europas, die all die eigenständigen und gemeinsamen Beiträge von Engländern, Schotten, Walisern und Iren, von Shakespeare, Adam Smith, Winston Churchill und George Orwell unerwähnt ließe, wäre wie ein Symphonieorchester ohne Streicher – oder vielleicht eher ohne die Blechbläser?
Doch jeder gelangt auf seinem ganz eigenen Weg zu einem bewussten Selbstverständnis als Europäer. Ich wurde zu einem leidenschaftlichen Europäer durch meine intensive, unindividueller
Evergessliche persönliche Erfahrung, in einem geteilten Deutschland zu leben, die Entstehung der Solidarno´sc´-bewegung in Polen mitzuverfolgen und zusammen mit bedeutenden mitteleuropäischen Karlspreisträgern wie Václav Havel, Bronisław Geremek und György Konrád in Warschau, Prag, Budapest und Berlin die Befreiung mitzuerleben. In diesen inspirierenden Zeiten marschierten die Sache der Freiheit und die Europas vereint, Arm in Arm: Freiheit bedeutete Europa, Europa bedeutete Freiheit.
Bekanntlich verstehen sich nicht alle meine Landsleute so freudig als Europäer. Als ich die Dankrede des letzten britischen Preisträgers, Tony Blair, noch einmal las, konnte ich mir ein ironisches Lächeln nicht verkneifen, als ich seine zentrale Botschaft vernahm: „Großbritannien muss seine ambivalente Einstellung gegenüber Europa überwinden.“Diese ambivalente Haltung ist freilich keine britische Besonderheit mehr. „Britische“Euroskepsis und nationalistischer Populismus finden sich heute in allen Ecken des Kontinents. benso wenig ist die britische Ambivalenz mit dem Brexit-votum wie von Zauberhand irgendwie verschwunden. Tatsächlich habe ich noch nie in meinem Leben so viel leidenschaftliches Pro-europäertum erlebt wie im heutigen Großbritannien, insbesondere in Schottland, in London und unter jungen Menschen. Nicht wenige der 48 Prozent, die für den Verbleib Großbritanniens in
Dder Europäischen Union stimmten, haben sich noch immer nicht mit dem Ergebnis abgefunden. Mit der Eu-mitgliedschaft ist es wie mit der Gesundheit: Man weiß sie erst dann wirklich zu schätzen, wenn sie verloren geht. Aber seien Sie versichert: Wir britischen Europäer haben nicht aufgegeben. as bringt mich zu einer wichtigen Frage, die das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv betrifft. Die Idee einer formellen, rechtlichen Art von Eu-staatsbürgerschaft für britische Post-brexiteuropäer ist sicherlich unrealistisch, aber einer politischen Gemeinschaft, die ihre Mitglieder lediglich über ihre Zugehörigkeit zu einem Mitgliedstaat definiert und die einen selbst in intellektuellen und politischen Debatten ständig nach dem Pass fragt, fehlt etwas. Wenn wir unser europäisches Gemeinschaftsgefühl vertiefen wollen, müssen wir lernen, uns gegenseitig als individuelle Europäer zu sehen und anzuerkennen.