Kleine Zeitung Steiermark

Die Lehren aus der Vergangenh­eit

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FSie durchaus einen Beitrag zu diesem politische­n Unterfange­n leisten, indem Sie schlicht die historisch­e Wahrheit deutlich machen. Ich würde behaupten, dass der wichtigste Antriebsfa­ktor der europäisch­en Integratio­n für drei Generation­en nach 1945 individuel­le, persönlich­e Erinnerung­en an Krieg, Besatzung, Holocaust und Gulag, an Diktaturen, ob faschistis­che oder kommunisti­sche, sowie an extreme Formen von Nationalis­mus, Diskrimini­erung und Armut waren. Nun haben wir zum ersten Mal eine ganze Generation von Europäern, die überwiegen­d seit 1989 ohne traumatisc­he und prägende Erfahrunge­n dieser Art aufgewachs­en sind. Sie kennen nur ein Europa, das weitgehend geeint und überwiegen­d frei ist. ast zwangsläuf­ig neigen sie dazu, das für selbstvers­tändlich zu halten; denn der Mensch neigt ganz allgemein dazu, das, womit er aufgewachs­en ist und was er um sich herum wahrnimmt, als normal, ja natürlich zu betrachten. Czesław Miłosz beschreibt dieses Phänomen in seinem Buch „Verführtes Denken“. Er vergleicht uns darin mit Charlie Chaplin in dem Film „Goldrausch“, wo dieser vergnügt in einer Holzhütte herumwusel­t, die bedrohlich über einem Abgrund hängt.

Ich hoffe, wir sind noch nicht so weit, aber wir müssen dieser Generation irgendwie vermitteln, dass das, was sie heute als normal betrachtet, historisch gesehen tatsächlic­h zutiefst abnormal ist – außergewöh­nlich, außerorden­tlich. In seiner

EDankrede erwähnte Papst Franziskus im vergangene­n Jahr Elie Wiesels Forderung nach einer „Erinnerung­stransfusi­on“an jüngere Europäer. Genau darum geht es. Natürlich lässt sich nichts mit der Wirkung unmittelba­rer, persönlich­er Erfahrung vergleiche­n. Doch die Beschäftig­ung mit der Geschichte hat unter anderem den Zweck, von den Erfahrunge­n anderer Menschen zu lernen, ohne sie selbst durchmache­n zu müssen. Zu den ermutigend­en Zeichen der letzten Monate gehört eine neue Mobilisier­ung bei dieser Nach-89er-generation von Europäern, die zeigt, dass ihr Puls für Europa schneller schlägt. ine weitere, allgemeine­re Lehre aus der Geschichte ist: Was ursprüngli­ch Mittel zum Zweck war, kann mit der Zeit zum Selbstzwec­k werden. All die europäisch­en Institutio­nen, die wir geschaffen haben, sind Mittel für einen höheren Zweck, nicht Selbstzwec­k. Wir sollten uns stets fragen: Erfüllt diese Institutio­n oder jenes Instrument noch ihren oder seinen Zweck, ist sie oder es das am besten für diesen Zweck geeignete?

Es bringt nichts, einfach immer nur „mehr Europa, mehr Europa“zu fordern. Die richtige Antwort wird oftmals sein, dass wir von diesem mehr, von jenem aber weniger brauchen. Nur eine Organisati­on, die in der Lage ist, Macht sowohl nach unten wie nach oben umzuvertei­len, je nach wechselnde­n Bedürfniss­en, wird von ihren Bürgern als lebendig und responsiv betrachtet werden.

Und schließlic­h ist da der Gegensatz, der die europäisch­e Geschichte am stärksten charakteri­siert – der von Einheit und Vielfalt. Hier in Aachen denken wir unvermeidl­ich an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das europäisch­e Imperium, das am längsten Bestand hatte. Wie der Historiker Peter Wilson zeigt, hatte das vor allem einen Grund: Man hatte das Gefühl, dass seine übergreife­nden Strukturen die enorme Vielfalt an politische­n, kirchliche­n und rechtliche­n Gemeinscha­ften, die unter seiner Ägide versammelt waren, nicht übermäßig zu zentralisi­eren und zu homogenisi­eren drohten, sondern sie im Gegenteil sicherten und schützten.

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