Verloren in der dumpfen Männerwelt
Bernd bekommen ihn gut in den Griff und sprechen ihn ziemlich natürlich. Andere wie der Tiroler Gregor Bloéb als Maschinist Streckmann behandeln ihn als Fremdsprache und geben ihren Wortmeldungen quasi Anführungszeichen. Das passt nicht wirklich zusammen und verhindert einen organischen Sprachfluss. Doch das trifft sich mit Henkels Grundansatz, dem Paradestück des Naturalismus den Naturalismus auszutreiben.
Volker Hintermeier hat für diese in Koproduktion mit dem Hamburger Schauspielhaus entstandene Salzburger-festspiele-produktion Hauptmanns detaillierte, geradezu filmische Szenenbildanweisungen in einen finsteren Bühnenraum gegossen, der an das breite Innere eines Schiffsrumpfes erinnert: kreuzförmiger hölzerner Steg, der vorne an der Rampe an einem kleinen Metallkruzifix endet; bunte, gläserne Votivfenster; von der Decke hängende, selten benutzte Mikrofone und eine Vielzahl von Ventilatoren, die sich in immer neuen Varianten gruppenweise drehen; Taubenkäfige, ein Wasserhahn samt Wasserbecken und einige brennende Grabkerzen. Es ist eine Welt, in der sich kaum frei atmen lässt.
Umso drastischer der Beginn, der einen Ausbruch aus dem starren Lebenskorsett markiert, den Rose Bernd noch bitter bereuen wird: Das Gesicht weiß geschminkt, das Haupt mit Bändern geschmückt, lässt sie sich von ihrem Liebhaber Flamm (Markus John) von hinten nehmen, während der Rest des Dor- fes das Pfingstfest in der Kirche feiert. „Im Wald und auf der Heide / da such’ ich meine Freude“, jubiliert Flamm, auf den zu Hause eine schwer kranke Frau (eindringlich, doch vergeblich um Frauensolidarität bemüht: Julia Wieninger) wartet, beim Geschlechtsakt, von dem er noch nicht weiß, dass es der letzte sein wird: Rose hat sich entschlossen, ihrem Bräutigam, dem an Veitstanz leidenden, doch wohlhabenden Buchbinder August (Maik Solbach) endlich das Jawort zu geben.
Lina Beckmann, eine vielfach ausgezeichnete Schauspielerin mit Hauptmann-erfahrung, prägt und trägt als Titelfigur den Abend. Daran gewöhnt, schwer zu arbeiten, will Rose auch ein bisschen Vergnügen haben in dieser von Kirche und Maloche geprägten Welt. Sie weiß, dass sie, sobald sie mit dem schmächtigen, geplagten Buchbinder in den Ehestand eintritt, nichts mehr zu lachen haben wird. Umso schwerer fällt es ihr, die kurze Zeit ihrer kleinen Freiheit aufzugeben.
Dass Schauspielchefin Bettina Hering Rose Bernd als Spiegelfigur zu dem im Opernprogramm vertretenen Woyzeck sieht, beglaubigt Beckmann durch ihre starke Leistung: Eiein gene Entscheidungsgewalt wird ihr abgesprochen. Vergewaltigt, verleumdet und von ihrem Liebhaber schwanger, wird sie in die Enge getrieben. In der Ausweglosigkeit ermordet sie ihr Neugeborenes. Kein erfundener Fall: Gerhart Hauptmann wurde durch seine Erfahrungen als Geschworener in einem Kindsmordprozess zu seinem Stück angeregt.
Gregor Bloéb ist Roses Gegenfigur. Sein Streckmann verkörpert die rohe Gewalt. Seine Ankündigung „Was ich will bei am Weibe, das setz’ ich o durch“, wird er brutal in die Tat umsetzen. Henkel versucht erst gar nicht, das Ganze an die Gegenwart heranzuführen. Die archaische Zuspitzung verdeutlicht eine Welt, in der Gleichberechtigung noch in weiter Ferne lag. Am Ende gab es viel Applaus sowie Standing Ovations für Lina Beckmann. Hätte Festspielredner Ferdinand von Schirach aus ihrem Fall ein Mit(be)stimm-stück à la „Terror“gemacht, ein Freispruch wäre ihr sicher gewesen.