Späte Normalität
Der Einzug der AFD in den Bundestag mag Deutschland schockieren. In Europa sitzen rechte Populisten seit Langem in den Parlamenten. Und man kann sie bezwingen.
Als verspätete Nation hat man Deutschland gelegentlich bezeichnet. Die Charakterisierung bezog sich auf die Verzögerung, mit der das Land – gemessen an den alten Staaten des Westens – zu moderner Gestalt und nationaler Einheit gefunden hat. Doch der Befund lässt sich auch auf den Triumph der AFD umlegen und die helle Aufregung, in die er unser Nachbarland versetzt.
Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik stürmt eine Partei vom rechten Rand in den Bundestag und wird dort noch dazu auf Anhieb drittstärkste Kraft.
Dass ein so unverhohlen von völkischem Gedankengut beseelter Politiker wie der Afdmann Alexander Gauland künftig auf der Parlamentsbühne zum Halali auf die politischen Eliten bläst, ist ein Schock nicht nur für die Republik. Es zertrümmert das Selbstbild des Landes, mehr oder weniger immun gegen rechtspopulistische Strömungen zu sein.
Die Deutschen hätten ihre Lehren aus der Geschichte gezogen. Nach Auschwitz sei es undenkbar, dass eine Rechts-außen-bewegung bei einer bun- desweiten Wahl jemals mit dem demokratischen Gütesiegel einer Parlamentspartei versehen werde. So lautete das Narrativ.
Dabei gab es von den Erfolgen von Franz Schönhubers Republikanern Mitte der 1980er-jahre bis hin zum Durchmarsch der Schill-partei in Hamburg 2001 Indizien genug dafür, wie brüchig das Idyll in Wahrheit war.
Mit dem Einzug der AFD in den Bundestag vollzieht Deutschland nun nach, was in Europa längst Normalität ist. Von Griechenland über Italien, Österreich, Frankreich, die Niederlande, Polen und Ungarn bis in den hohen Norden sitzen am rechten Rand des politischen Spektrums beheimatete Parteien in den Parlamenten.
Doch anders als gern behauptet wird, handelt es sich bei ihrer Wählerschaft keineswegs nur um die Abgehängten dieser Erde, sondern durchaus auch um gut situierte Bürger.
Was diese umtreibt, ist die Frage nach Identität in einer von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen geprägten, sich rasant wandelnden Welt – eine Frage, die durch die Zuwanderung von einer Million Fremder im Zuge der großen Flüchtlingskrise des Spätsommers 2015 nie da gewesene Brisanz erhalten hat. as bedeutet Integration? Erschöpft diese sich in einem optimistischen „Wir schaffen das?“und in einem Aufenthaltstitel? Oder gehört dazu nicht mehr? Ja, was gehört eigentlich dazu? Angela Merkels Verhängnis und das der SPD war es, dieses wild umstrittene Feld kampflos den rechten Rändern zu überlassen.
Viele Länder in Europa sind da weiter. Ja dort, dort wo Traditionsparteien es schaffen, sich als zivilisiertere konservative Alternative zu positionieren (Niederlande), dort wo es gelingt, alte Nationen auf mitreißende Weise neu zu bestimmen (Macrons Frankreich), schwächeln Europas Populisten.
Man muss sie nicht zum Dämon stilisieren. Man kann sie in offener politischer Auseinandersetzung bezwingen.
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