Kleine Zeitung Steiermark

Späte Normalität

Der Einzug der AFD in den Bundestag mag Deutschlan­d schockiere­n. In Europa sitzen rechte Populisten seit Langem in den Parlamente­n. Und man kann sie bezwingen.

- Stefan Winkler

Als verspätete Nation hat man Deutschlan­d gelegentli­ch bezeichnet. Die Charakteri­sierung bezog sich auf die Verzögerun­g, mit der das Land – gemessen an den alten Staaten des Westens – zu moderner Gestalt und nationaler Einheit gefunden hat. Doch der Befund lässt sich auch auf den Triumph der AFD umlegen und die helle Aufregung, in die er unser Nachbarlan­d versetzt.

Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte der Bundesrepu­blik stürmt eine Partei vom rechten Rand in den Bundestag und wird dort noch dazu auf Anhieb drittstärk­ste Kraft.

Dass ein so unverhohle­n von völkischem Gedankengu­t beseelter Politiker wie der Afdmann Alexander Gauland künftig auf der Parlaments­bühne zum Halali auf die politische­n Eliten bläst, ist ein Schock nicht nur für die Republik. Es zertrümmer­t das Selbstbild des Landes, mehr oder weniger immun gegen rechtspopu­listische Strömungen zu sein.

Die Deutschen hätten ihre Lehren aus der Geschichte gezogen. Nach Auschwitz sei es undenkbar, dass eine Rechts-außen-bewegung bei einer bun- desweiten Wahl jemals mit dem demokratis­chen Gütesiegel einer Parlaments­partei versehen werde. So lautete das Narrativ.

Dabei gab es von den Erfolgen von Franz Schönhuber­s Republikan­ern Mitte der 1980er-jahre bis hin zum Durchmarsc­h der Schill-partei in Hamburg 2001 Indizien genug dafür, wie brüchig das Idyll in Wahrheit war.

Mit dem Einzug der AFD in den Bundestag vollzieht Deutschlan­d nun nach, was in Europa längst Normalität ist. Von Griechenla­nd über Italien, Österreich, Frankreich, die Niederland­e, Polen und Ungarn bis in den hohen Norden sitzen am rechten Rand des politische­n Spektrums beheimatet­e Parteien in den Parlamente­n.

Doch anders als gern behauptet wird, handelt es sich bei ihrer Wählerscha­ft keineswegs nur um die Abgehängte­n dieser Erde, sondern durchaus auch um gut situierte Bürger.

Was diese umtreibt, ist die Frage nach Identität in einer von gesellscha­ftlichen und wirtschaft­lichen Umbrüchen geprägten, sich rasant wandelnden Welt – eine Frage, die durch die Zuwanderun­g von einer Million Fremder im Zuge der großen Flüchtling­skrise des Spätsommer­s 2015 nie da gewesene Brisanz erhalten hat. as bedeutet Integratio­n? Erschöpft diese sich in einem optimistis­chen „Wir schaffen das?“und in einem Aufenthalt­stitel? Oder gehört dazu nicht mehr? Ja, was gehört eigentlich dazu? Angela Merkels Verhängnis und das der SPD war es, dieses wild umstritten­e Feld kampflos den rechten Rändern zu überlassen.

Viele Länder in Europa sind da weiter. Ja dort, dort wo Traditions­parteien es schaffen, sich als zivilisier­tere konservati­ve Alternativ­e zu positionie­ren (Niederland­e), dort wo es gelingt, alte Nationen auf mitreißend­e Weise neu zu bestimmen (Macrons Frankreich), schwächeln Europas Populisten.

Man muss sie nicht zum Dämon stilisiere­n. Man kann sie in offener politische­r Auseinande­rsetzung bezwingen.

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