Die Menschenwürde im Alter
Der Pflegeskandal in Niederösterreich sollte Anlass sein, die Fehler im System zu beheben, und daran erinnern, dass die Verantwortung nicht am Tor des Heimes endet.
Der Fall bestürzt, macht fassungslos, wütend. Statt die ihnen in Obhut gegebenen Menschen zu pflegen, ihnen einen Lebensabend mit Würde zu ermöglichen, wurden die Pfleglinge eines Heimes in Niederösterreich gequält und erniedrigt. Kot wurde wehrlosen Menschen in den Mund gestopft, Genitalien und Augen mit ätherischem Alkohol eingerieben. „Aromapflege“nannte man das mit menschenverachtendem Zynismus.
Der erste Reflex in der öffentlichen Debatte: Es läuft etwas falsch in der Pflege. Pars pro Toto wird ein Generalverdacht gegen Pflegerinnen – zu über 90 Prozent machen Frauen diesen Beruf – geäußert. Ein Fehler. Wegen einzelner Sadisten, die mit System gequält haben, darf man nicht die Branche an sich kriminalisieren. Wohl aber darf man die Frage stellen, wie in dieser Bettenburg Demütigung zum Tagesgeschäft wurde.
Der zweite Reflex: zu sagen, dass es nur ein Einzelfall war, und damit auszublenden, dass es strukturelle Herausforderungen im Pflegebereich gibt – die man freilich seit Jahren kennt. Da wäre einmal die Unterbe- zahlung für einen aufopfernden Dienst am Menschen. 1400 Euro netto sind das Einstiegsgehalt im Schnitt. Nach 20 Dienstjahren bekommt man zwar 300 Euro mehr im Monat, hat aber Dutzende Menschen bis zum Tod begleitet, sich körperlich geschunden, Wochenenden und Feiertage fern der eigenen Familie verbracht. Geld kann die psychische Belastung aus diesen Jahren nicht abfedern. Begleitung und Supervision könnten manchen helfen, gehören aber nicht zum Standard. Gewinnorientierte Trägergesellschaften wie die Gemeinnützigen setzen oft hier den Sparstift an. Was nach Jahren der liebevollen Aufopferung bleibt, ist aufgestaute Überforderung, die manchmal Pflegepersonal selbst an den Rand der psychischen Pflegebedürftigkeit bringt.
Dass sich das Pflegepersonal jeden Tag mehrere Stunden mit Protokollen und Formalismen beschäftigt, kennt man in Zeiten von Qualitätssicherung, Zertifizierungen und der permanenten Sorge vor Klagen. Nur fehlt diese Zeit unmittelbar für das eigentliche Aufgabengebiet: die Menschen, unser aller Großmütter, Eltern, Tanten, die wir ins Herz geschlossen haben. och der Pflegevertrag besteht nicht nur zwischen Bewohnern und Personal. Auch den Angehörigen fällt eine Rolle zu – die sie trotz der Abschaffung des Pflegeregresses und der Entlassung aus der finanziellen Verantwortung wahrzunehmen haben. Denn auch wenn man die Kosten für die ältere Generation an die Allgemeinheit ausgelagert hat, bleibt so etwas wie Ethos. Ein Angehöriger, der beim Suppenlöffeln hilft, eine halbe Stunde zuhört und streichelt, kann ausgleichen, was im Korsett des Dienstplans keinen Platz hat.
Man muss nur an sich selbst in ein paar Jahren denken und daran, was man sich wünscht: dass jenes Urvertrauen, mit dem man als Kind in der Welt willkommen geheißen wurde, im letzten Lebensabschnitt ein Menschenrecht bleibt.
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