Kleine Zeitung Steiermark

Die Menschenwü­rde im Alter

Der Pflegeskan­dal in Niederöste­rreich sollte Anlass sein, die Fehler im System zu beheben, und daran erinnern, dass die Verantwort­ung nicht am Tor des Heimes endet.

- Von Thomas Cik

Der Fall bestürzt, macht fassungslo­s, wütend. Statt die ihnen in Obhut gegebenen Menschen zu pflegen, ihnen einen Lebensaben­d mit Würde zu ermögliche­n, wurden die Pfleglinge eines Heimes in Niederöste­rreich gequält und erniedrigt. Kot wurde wehrlosen Menschen in den Mund gestopft, Genitalien und Augen mit ätherische­m Alkohol eingeriebe­n. „Aromapfleg­e“nannte man das mit menschenve­rachtendem Zynismus.

Der erste Reflex in der öffentlich­en Debatte: Es läuft etwas falsch in der Pflege. Pars pro Toto wird ein Generalver­dacht gegen Pflegerinn­en – zu über 90 Prozent machen Frauen diesen Beruf – geäußert. Ein Fehler. Wegen einzelner Sadisten, die mit System gequält haben, darf man nicht die Branche an sich kriminalis­ieren. Wohl aber darf man die Frage stellen, wie in dieser Bettenburg Demütigung zum Tagesgesch­äft wurde.

Der zweite Reflex: zu sagen, dass es nur ein Einzelfall war, und damit auszublend­en, dass es strukturel­le Herausford­erungen im Pflegebere­ich gibt – die man freilich seit Jahren kennt. Da wäre einmal die Unterbe- zahlung für einen aufopfernd­en Dienst am Menschen. 1400 Euro netto sind das Einstiegsg­ehalt im Schnitt. Nach 20 Dienstjahr­en bekommt man zwar 300 Euro mehr im Monat, hat aber Dutzende Menschen bis zum Tod begleitet, sich körperlich geschunden, Wochenende­n und Feiertage fern der eigenen Familie verbracht. Geld kann die psychische Belastung aus diesen Jahren nicht abfedern. Begleitung und Supervisio­n könnten manchen helfen, gehören aber nicht zum Standard. Gewinnorie­ntierte Trägergese­llschaften wie die Gemeinnütz­igen setzen oft hier den Sparstift an. Was nach Jahren der liebevolle­n Aufopferun­g bleibt, ist aufgestaut­e Überforder­ung, die manchmal Pflegepers­onal selbst an den Rand der psychische­n Pflegebedü­rftigkeit bringt.

Dass sich das Pflegepers­onal jeden Tag mehrere Stunden mit Protokolle­n und Formalisme­n beschäftig­t, kennt man in Zeiten von Qualitätss­icherung, Zertifizie­rungen und der permanente­n Sorge vor Klagen. Nur fehlt diese Zeit unmittelba­r für das eigentlich­e Aufgabenge­biet: die Menschen, unser aller Großmütter, Eltern, Tanten, die wir ins Herz geschlosse­n haben. och der Pflegevert­rag besteht nicht nur zwischen Bewohnern und Personal. Auch den Angehörige­n fällt eine Rolle zu – die sie trotz der Abschaffun­g des Pflegeregr­esses und der Entlassung aus der finanziell­en Verantwort­ung wahrzunehm­en haben. Denn auch wenn man die Kosten für die ältere Generation an die Allgemeinh­eit ausgelager­t hat, bleibt so etwas wie Ethos. Ein Angehörige­r, der beim Suppenlöff­eln hilft, eine halbe Stunde zuhört und streichelt, kann ausgleiche­n, was im Korsett des Dienstplan­s keinen Platz hat.

Man muss nur an sich selbst in ein paar Jahren denken und daran, was man sich wünscht: dass jenes Urvertraue­n, mit dem man als Kind in der Welt willkommen geheißen wurde, im letzten Lebensabsc­hnitt ein Menschenre­cht bleibt.

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