Größte Intimität, radikale Gegenwart
Grigory Sokolov setzt sich in Graz dem Mysterium der Form auf die Spur.
Das erste Solistenkonzert der Saison im Musikverein führte Grigory Sokolov zum zweiten Mal nach Graz. Dem Russen eilt der Ruf voran, der beste Pianist der Gegenwart und ein Exzentriker zu sein. Bevor der 67-Jährige das Podium betritt, wird die Beleuchtung im Saal abgedunkelt. Sokolov geht hinter dem Flügel vorbei, als wolle er zu große Nähe zum Publikum meiden, verbeugt sich abwesend und beginnt. Und da ist er, Sokolovs berühmter Anschlag, jede Note glasklar. Der Steinway klingt trocken und metallisch, nichts verschwimmt. Sokolov interpretiert das Stück nicht, er bringt es hervor, es entsteht beim Spielen in einem organischen Vorgang von größter Intimität und radikaler Gegenwart.
Sokolov, der nur Soloabende gibt, weil ihm die Probenzeit mit Orchestern zu kurz ist, wählt für den Auftritt in Graz Sonaten von Haydn und Beethoven in Moll-tonarten. Die Pausen zwischen den einzelnen Sonaten dauern einen Atemzug, exakt gleich lang wie die Satzpausen. Der Pianist fürchtet um die Konzen- tration – um seine und die des Publikums. Die drei Haydnsonaten aus den 1770er-jahren spielt Sokolov so, dass der Eindruck eines einzigen Werks entsteht. Er legt die Struktur der Nr. 32 in g-moll frei, als ob es keine technischen Grenzen gäbe. Wärmer, fragender gestaltet er das Menuett der Sonate Nr. 47 in h-moll, leitet über zum jubelnd lebendigen Finale. Die den Töchtern des Grazer Arztes Auenbrugger gewidmete Sonate Nr. 49 in cis-moll schließt mit einem nachdenklichen dritten Satz.
Den folgenden Teil des Konzerts bildeten zwei Beethoven-sonaten in der seltenen zweisätzigen Form. In der Sonate Nr. 27 in e-moll, op. 90 umreißt Grigory Sokolov einen inneren Kosmos, spätestens im Adagio weiß jeder, dass dieser unbestechliche, radikale Künstler in der Musik lebt, alle Freiheit ist dort. Beethovens letzte Klaviersonate, Nr. 32 in c-moll, verklingt nach einem düster drohenden Beginn und dem stupend geflochtenen Tongespinst der Arietta-variationen in zartem Schweben. Anhaltender Jubel, sechs Zugaben.