Die Befreiung vom Zwang im Kammerstaat Österreich
Im Zeitalter des Individualismus ist Pflichtmitgliedschaft ein Anachronismus. Weg damit. Denn der Homo digitalis lebt im Flow und facebook zeigt es täglich: Man kann – ohne Pflicht und mit vermeintlichem Nutzen – eine Milliarde Mitglieder haben.
An eine solche „Freiheit“hatten 1848 die Revolutionäre auf der Barrikaden Wiens nicht gedacht, als sie der Monarchie die Freiheit auf Selbstverwaltung entrissen. Ja, es war Liberalität, die dem Handelskammergesetz vom 15. Dezember 1848 unterlag. Die Pflichtmitgliedschaft ballte die Kraft gegenüber dem Staat und gab Legitimität für alle Gewerbetreibenden, das Begutachtungsrecht zu Gesetzen und Verordnungen auszuüben.
Der Gedanke der Selbstbehauptung steht 170 Jahre später da als Sinnbild von Zwang und Verkrustung – ins Gegenteil von Freiheit verkehrt. Lange vor den liberalen Neos und ihrem Chef Matthias Strolz haben etwa Claus Raidl oder Hans Peken Haselsteiner das Kammersystem infrage gestellt. Und es erschütterte sich selbst, indem Selbstverwaltung zur Selbstbedienung pervertierte.
1994 hielt Jörg Haider Franz Vranitzky das Taferl mit den Bezügen des steirischen Akdirektors und Gagenkaisers Kurt Zacharias hin. Schon vorher löste der Skandal um den steirischen Ak-präsidenten und Spesenritter Alois Rechberger eine Urabstimmung ihrer Mitglieder über die AK aus, welche diese mit 90 Prozent Zustimmung überstand. Die Wirtschaftskammer kam 1995 mit über 80 Prozent „Ja“bei nur 30 Prozent Beteiligung ihrer Mitglieder über die Runden. Danach forcierte man Service und die Fachverbände prolongierten ihre sozialfriedensstiftende Kollektivvertragspartnerschaft. Doch als nebenregierende Sozialpartnerschaft haben Arbeiterkammer, Gewerkschaftsbund und Wirtschaftskammer zuletzt nicht einmal mehr die gebotene Arbeitszeitflexibilisierung gestemmt. Für Industriellen-präsident Georg Kapsch ist die erstarrte Nebenregierung Sozialpartnerschaft ein „Staat im Staat“. epp Schellhorn will mit den Neos alle Kammern nur noch als freiwillige Vereine. Die Diskussion reicht dann von 45.000 Medizinern in der Ärztekammer bis zu 514 Mitgliedern in der Notariatskammer, von 6300 Rechtsanwälten bis zu 8738 Ziviltechnikern, von Landwirtschafts- bis Landarbeiterkammer, von Wirtschaftstreuhändern bis Apothekern. Der Kammerstaat,
SGefüge als Ordnungs- und Interessensmacht als Ganzes steht infrage.
„Private Verbände sind eine freie Schöpfung der Bürger. Selbstverwaltungskörper wie Kammern eine Schöpfung des Staates“, unterschied einst Verfassungsrichter Karl Korinek. Letztere hätten auch Gemeinwohlaufgaben, „die Artikulation von Interessen wäre freien Verbänden zugeordnet. Stärker werden die sein, die mehr wirtschaftliche Potenz aufbringen.“Die Integration der Interessen erfolge im Staat. „Das System bloß freier Interessenverbände ist daher das Modell eines starter Staates“, hielt der heuer verstorbene Verfassungsrechtler 1990 in einem Festvortrag zu 70 Jahre Bundesverfassung fest. Dies sei „ein legitimes Bild der Demokratie; es ist aber nicht das Bild, das unserer Verfassung zugrunde liegt.“n der Koalitionsverhandlung mit Sebastian Kurz fordert Heinz-christian Strache nun für ein türkisblaues Bündnis die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft. Und schon rumort es in der alten neuen ÖVP. Präsident Christoph Leitl sieht in der Diskussion „eine gute Gelegenheit, die Unverzichtbarkeit der Wirtsein
Die Pflichtmitgliedschaft liegt auf dem Pokertisch der Koalitionsverhandler. Die FPÖ will sie abschaffen, doch wie neu ist hier die ÖVP? Dabei reicht das Thema tief in den Freiheitsgrundgedanken unserer Verfassung.
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