Die kleine, große Welt des Ungargassenlandes
Der talentierteste und in seinem Verhalten originellste österreichische Fußballer heißt Arnautovic´ und ist ein Serbe. Er ist ein Serbe, weil ihm sein Vater das sprachliche und kulturelle Selbstbewusstsein eines Serben vermittelt und als familiäre Tradition weitergegeben hat; aber er ist natürlich auch ein Österreicher, der in Wien geboren wurde und aufgewachsen ist. Was ihn auszeichnet, ist also – in alten Begriffen gesprochen – eine doppelte nationale Identität, wie sie zu Zeiten, als die Donaumonarchie noch nicht in Nationalitätenkämpfen zu zerfallen begonnen hatte, etwas Selbstverständliches in Österreich war.
Von einigen Hooligans des nationalen Fußballs wird Marko Arnautovic´ dafür gescholten, dass er zwar im österreichischen Nationalteam spiele, periodisch aber mit emphatischen Worten auch Serbien zu seinem Heimatland erkläre. Vor bald drei Wochen hat er im Länderspiel gegen Serbien ein Tor für Österreich geschossen und sich danach des demonstrativen Jubels geradezu demonstrativ enthalten; er, der allgemein als ungestüm, ja, als respektlos gilt, begründete das in seinem breiten Vorstadtwienerisch mit dem Respekt, den er gegenüber dem serbischen Teil seiner Familie und dem Gegner auf dem Platz empfinde.
Arnautovic´ ist in Floridsdorf, dem 21. Bezirk von Wien, aufgewachsen, im zentrumsnahen 3. Bezirk gibt es ein kleines Viertel, das im Roman „Malina“von Ingeborg Bachmann das „Ungargassenland“genannt wird, nach jener leicht hügelabwärts führenden Ungargasse, die in „Malina“eine so große topographische Rolle spielt. ch bin diese Gegend vor einigen Jahren Haus für Haus abgeschritten und dabei durch verschiedene Zeiten und Welten gekommen. In einer Seitenstraße, die den Namen Marokkanergasse trägt, lebte fünfzig Jahre lang in einer für seine stetig wachsende Bibliothek und Nachkommenschaft viel zu kleinen Wohnung der Serbe Vuk Karadˇzic´, der mit seiner Frau, der Wienerin Anna Knauß, zwölf Kinder hatte. Karadˇzic´ war der Sohn einfacher Dorfbewohner, die ihm keine höhere Bildung auf seinen Weg in die Welt mitgeben konnten; aus dem Flüchtling ist in Wien dennoch einer der großen europäischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts geworden, der aus den Dialekten seiner Heimat die serbische Hochsprache formte, ihre Rechtschreibung festlegte, ein Wörterbuch mit 27.000 Eintragungen verfasste und die vorher nur mündlich
Iüberlieferte Volksdichtung sammelte. ur ein paar Gehminuten von der Marokkanergasse entfernt, stieß ich in der Ungargasse 39 auf das Haus eines anderen freien Geistes vom Balkan. Auf einer rostigen Tafel, wie geschaffen dafür, dass man sie im wild brausenden städtischen Verkehr übersehe, steht dort geschrieben: „Zur Erinnerung an Petar Preradovic´, den großen kroatischen Dichter“,
Nund klein darunter ist in verblassender Schrift angefügt, was heute niemand mehr schreiben könnte, weil die Welt, von der es zeugt, in Krieg und Schrecken untergegangen ist: „Errichtet von der Jugoslawischen Akademie der Künste und Wissenschaften“.
Wie Karadˇzic´ das Serbische in der Fremde kodifizierte, hat Preradovic´ das Kroatische als Hochsprache der Dichtung erst als Zögling verschiedener k. u. k. Kadettenanstalten für