Kleine Zeitung Steiermark

Das Licht sieht man besser bei Dunkelheit

- Von Ulrich Dunst

Sylvia Gravogl hat Jahre hinter sich, in denen sich medizinisc­he und seelische Katastroph­en mit unerbittli­cher Wucht abgewechse­lt haben. Bis sie dank neuer Organe doch noch mitten im Leben ankommen durfte.

Die Zeit läuft vorwärts. Die Zeit läuft rückwärts. Die Zeit steht still. Und die Zeit hat bedauerlic­herweise die Eigenschaf­t, dass sie ganz schön schwer werden kann. So schwer, dass den Rucksack voller schwerer Zeiten ein Mensch allein fast nicht ins Ziel bringt. Sylvia Gravogl weiß das.

Seit ihrem dritten Lebensjahr lebt die 29-Jährige mit der Diagnose Diabetes Typ I. Ein Leben mit unzähligen Fingerstic­hen pro Tag, ein Leben mit Spritzen. Aber ein Leben, mit dem sie sich dank ihrer Frohnatur arrangiere­n kann – mit der Zeit.

Es kommt ein Partner, es kommt ein Umzug in die Obersteier­mark, es kommt 2012 Anna in ihr Leben, die bis heute quietschve­rgnügt und frisch aller Milchzähne in der ersten Galerie entledigt ihrer Mama nicht von der Seite weicht.

Doch dann kommt das Jahr 2015 und damit eine Zeit, in der sich medizinisc­he und seelische Katastroph­en in unerbittli­cher Konsequenz abwechseln.

„Als ich zum zweiten Mal schwanger wurde, begannen meine Nieren zu versagen“, erzählt Sylvia. Die Schwangers­chaft muss abgebroche­n werden. Die Zeit steht still.

Im April 2016 fällt die Entscheidu­ng zur Dialyse. Dreimal pro Woche pendelt Sylvia zur Blutwäsche nach Rottenmann. Körper – und nicht die Zeit – bestimmt ab sofort die Taktung des Alltags. Und bald wird klar, dass ohne neue Organe ein Ankommen im Leben wohl nicht möglich sein wird.

Sylvias Schwester erklärt sich im Sommer 2016 bereit, ihr eine Niere zu spenden. Doch der erste Versuch in Graz schlägt fehl, weil kurz vor der Transplant­ation Sylvias Blutwerte verrückt spielen. Der zweite Op-termin muss abgesagt werden, der dritte ebenso, weil Sylvia plötzlich Noroviren zu schaffen machen, und eine Lungenentz­ündung, eine Bauspeiche­lentzündun­g ... Also zurück zum Anfang. Sylvia kommt auf die Warteliste für Organspend­e. Die Zeit läuft rückwärts. Oder zumindest in der Warteschle­ife.

Fragen tauchen auf. „Warum ich?“Es ist eine Zeit des Haderns für Sylvia. Und eine Zeit des Zwiegesprä­chs mit dem da oben: „Wenn drei Operatione­n abgesagt werden, wenn du da so an der Kippe stehst, denkst du dir schon: Gibt er dir jetzt einen Schubser?“

Einen Schubser, nein, emotional ist es viel mehr als nur ein Schubser, erlebt Sylvia schließlic­h im Herbst 2016. Ihr Partner trennt sich von ihr. Anfang 2017 verliert Sylvia auch noch ihre Nichte bei einem Verkehrsun­fall.

Wieder steht sie still, die Zeit. Eine Zeit, in der sich Sylvia gar nicht mehr traut, sich an Hoffnungen zu klammern. „Wenn man nichts hofft, kann man auch nicht enttäuscht werden.“

Doch manchmal muss man in die Dunkelheit, um das Licht besser zu erkennen. Manchmal muss man einen Schritt zurückgehe­n, um zwei Schritte voranzukom­men. „Ich bin wieder nach Hause nach Türnitz zu meiner Mutter gezogen. Ich bin daheim angekommen. So richtig daheim.“Die Zeit läuft langsam, aber doch vorwärts.

Obwohl der Weg zur Dialyse täglich drei Stunden in Anspruch nimmt. Und sich abzeichnet, dass Sylvia nicht nur eine neue Niere, sondern auch eine Bauchspeic­heldrüse brauchen wird. „Doch zusammen mit meiner Mutter, meinen Schwestern und Anna haben wir die Zeit gut gemeistert.“

Man lernt in diesen Phasen vieles, sagt Sylvia. Vor allem lernt man, das Wichtige zu schätzen. Und das Wichtigste im Leben sitzt gerade, mit ihren 120 Zentimeter­n voller Lebensener­gie, neben ihr. Anna. Ihre kleine Kinderbril­le wirkt wie ein Sieg der Neugier über die Stupsnase.

Mitten in der Nacht des 5. September 2017 kommt der lang ersehnte Anruf. „Sie werden in wenigen Minuten von der Rettung abgeholt, das Op-team in Graz wartet schon“, heißt es am anderen Ende der Leitung. Am Sylvia Gravogl über den Glauben Endlich angekommen im Leben

anderen Ende, wo der Anfang eines neuen Lebens wartet.

Die seltene Doppel-transplant­ation aus Niere und Bauchspeic­heldrüse – sie wird bundesweit keine zehn Mal im Jahr gemacht – führt Peter Schemmer durch. „Mit der neuen Bauchspeic­heldrüse kann auch die Ursache für weitere Nierenbesc­hwerden besser bekämpft werden“, erklärt der Deutsche, der auf dem Gebiet als Koryphäe gilt und seit dem Vorjahr in Graz tätig ist.

Alles geht gut. „Und alles ist für etwas gut“, sagt Sylvia, die sich nach der OP überrasche­nd schnell erholt und dem Spitalstea­m („Ich habe mich hier imder

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