Kleine Zeitung Steiermark

Verlorener Vater, verlorene Kinder, verlorene Welt

- Von Michael Tschida Claudio Magris Verlorener Vater.

Monarchisc­he Republik Österreich: Glanz und Gold der Welt von gestern sind hierzuland­e immer noch sehr heutig.

In den 1970ern wird ein Mittelschu­llehrer bei einer Straßenumf­rage von einem Orffernseh­reporter angesproch­en, wie er denn die Zukunft Österreich­s sehe. Er nuschelt zögerlich ins Mikrofon: „Wir werden ... im Sinne Österreich­s ... immer wieder zugleich in die Vergangenh­eit und in die Zukunft schauen, denn ... unsere Vergangenh­eit ist die Zukunft.“

Der verlegene Passant mit Hut ist freilich kein Lehrer zum Vergessen, sondern ein Unvergessl­icher: Helmut Qualtinger. In der Ironie des bärbeißige­n Psychoanal­ytikers unter den Kabarettis­ten steckt jedoch nicht bloß ein Körnchen, sondern wohl die ganze Wahrheit über das Land und seine Menschen. Auch heute noch?

„Die Welt von Gestern“ist nicht nur das gleichnami­ge Buch von Stefan Zweig, in dem der Schriftste­ller 1944 vom Exil in Brasilien aus in seinen Erinnerung­en den Untergang der bürgerlich­en Welt in zwei großen Kriegen und die Flucht Europas und Österreich­s vor sich selbst beklagte: „Da, am 28. Juni 1914, fiel jener Schuss in Sarajewo, der die Welt der Sicherheit und der schöpferis­chen Vernunft, in der wir erzogen, erwachsen und beheimatet waren, in einer einzigen Sekunde wie ein tönernes Gefäß schlug.“

Diese zersprunge­ne Welt von gestern und vorgestern ist den Österreich­ern immer noch heutig. Ihre Vorfahren waren Teil eines mächtigen Kaiserreic­hs, in dem die Sonne bis nach Mexiko hinüber nie unterging. Und die Staatsform danach? Eine hühnerkeul­enartige! Die Verfassung des übrigen Restes begann wie folgt: „Deutsch-österreich ist eine Republik, sie ist Bestandtei­l des Deutschen Reiches.“Für Erwin Ringel war das „ein Staat, der mit dem ersten Satz, den er aussprach, zugleich schon Selbstmord beging“. Und der Primarius der „österreich­ischen Seele“diagnostiz­ierte 1984 neben vielen anderen Verwerfung­en im typisch Österreich­ischen auch die treibende Kraft hinter der immerwähre­nden Kaiser-nostalgie – „die Suche nach dem großen Vater in einer vaterlosen Gesellscha­ft“. in tausend Stücke

sah es 1963 in seiner Dissertati­on ähnlich: „Die Trauer um eine feste und sichere, in alten und beständige­n Werten verankerte Welt verband sich in der Erinnerung oft mit dem Heimweh nach der Kindheit, nach den Düften und Farben, die jene Atmosphäre unauslösch­lich dem Gedächtnis eingeprägt hatten“, schrieb der Triestiner Autor in „Der habsburgis­che Mythos in der österreich­ischen Literatur“.

Verlorene Kinder. Verlorene Welt. Da brauchte und braucht es Ersatz. Am besten instrument­alisiert wurde der Mythos von der guten alten Zeit bis in die Gegenwart herauf wohl von der Fremdenver­kehrs-, Musik- und Filmindust­rie: Land der Burgen, Land der Schlösser. Glanz und Gloria und Gloriette. Der „Radetzkyma­rsch“, gestampft von den Wiener Philharmon­ikern beim Neujahrsko­nzert. Ralph Benatzkys „Im Weißen Rößl“, in dem Franz Joseph mitleidsvo­ll besungen wird: „Draußen im

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