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Und seit Nada in „Die Farbe des Granatapfels“ihre geliebte Schwester verloren hat, wird ihre Vorstellung von Liebe durch Verlustangst und Besitzansprüche bestimmt. Diese waidwunde Liebe belastet vor allem das Verhältnis zur Enkelin, aus deren Perspektive der Roman erzählt ist. Aber Baar wertet nicht, sondern macht deutlich, dass solches Lieben den zwanghaften Versuch darstellt, eine zerstörte Lebensordnung zu bewahren. in anderer Ausdruck dieses Zwangs sind ritualisierte Verhaltensweisen, die den Alltag der Großmutter strukturieren. Dazu zählt vor allem die Gewohnheit, Teppichfransen glatt zu striegeln, und es verwundert nicht, dass sie besonders ordentlich gezupft sein müssen, wenn der Abschied von der En-
Egeboren 1950 in Graz, ist einer der profundesten Kenner der Gegenwartsliteratur. Exklusiv für die Kleine
Zeitung befasst er sich mit speziellen Eigenheiten von Autorinnen und Autoren. kelin droht. Andererseits bedarf es dieser Ersatzordnung nicht, wenn sich für Momente eine angstfreie Liebe einstellt und Nada – Ordnung hin, Ordnung her – mit dem Kind auf dem Teppich herumtollt.
Die volle Sprengkraft dieser spielerischen Entgrenzung erweist sich, wo sie zur märchenhaften Utopie gesteigert erscheint. Fantasie und Traum produzieren den schönen Schein einer Liebe, die unversehrt bleibt von Krieg und Zwietracht. Die Imagination formt ein Gegenbild zur kruden Wirklichkeit, wobei Baar keinen Zweifel lässt, dass es zugleich ein Trugbild ist. Die Seelengemeinschaft der Liebenden im Roman „Als ob sie träumend gingen“realisiert sich als „Schattenspiel“, als schwereloses Paralleluniversum der Fiktion. In diesem Paralleluniverausartet. sum ist nichts „wirklich“im vordergründigen Sinn und dennoch „wahr“als Verheißung einer anderen Realität.
Im irrealen „als ob“des Romantitels findet diese „Wahrheit“ihren Niederschlag, und wenn Baar sie im Detail ausmalt, skizziert sie die Umrisse ihrer Poetik: „Alles war lebendig und wahr in ihrem Schattenspiel, und sie Prinzessin von Amarant und er Kalif von Amerika, und die Welt trat ihnen vor die Seele, prächtiger als jenen, denen sie vom Anschein so geläufig ist, dass sie nicht mehr ins Staunen kommen.“n so einem poetischen Kosmos gedeiht naturgemäß auch das Phantasma, fliegen zu können. Es steht für den Wunsch, die Beschränkungen der Realität abschütteln zu können, und dazu gehört dann auch, dass dem Teppich als
ISymbol einer zwanghaften Ordnung Flügel wachsen. Unter den Auspizien des „Schattenspiels“wird er zum fliegenden Teppich, auf dem die Liebenden „über Meere, Berge und Seen“brausen, und die Fransen müssen in dieser luftigen Höhe nicht gestriegelt werden, sondern flattern im Wind.
Dauer freilich ist solchen Schattenspielen nicht beschieden. Anna Baar kann und will nicht leugnen, dass weiterhin Krieg herrscht, wieder und wieder. Und dieser Krieg wirft durchaus andere Schatten. In „Als ob sie träumend gingen“fallen sie dunkel, schwer und bedrückend auch auf das Paralleluniversum der Fantasie. Da werden unter Jauchzen und Grölen und Lachen Bücher verbrannt. Darunter auch das Märchenbuch der Protagonistin, in dem geflügelte Pferde den Himmel queren.