Kleine Zeitung Steiermark

Von Stefan Winkler

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Herr Rumiz, Sie haben Italien mit dem Zug von den Alpen bis zur Stiefelspi­tze bereist, den Po mit dem Boot befahren und sind die Via Appia zu Fuß gewandert. Was für ein Land haben Sie kennengele­rnt?

PAOLO RUMIZ: Ein Land mit gewaltigen Unterschie­den zwischen Nord und Süd, Ost und West, das sich nicht wirklich seiner Geschichte gestellt und vielleicht noch immer keine Nation ist. Vermutlich gibt es nicht ein, sondern viele Italien.

Welches davon ist Ihres?

Jedes hat seine Vorzüge und seine Makel. Ich stamme aus dem Norden, von der Grenze, aus Triest und fühle mich viel mehr als Europäer denn als Italiener. Ich bin in Laibach und Wien mehr zu Hause als in Rom. 500 Jahre Österreich sind bedeutsame­r als ein Jahrhunder­t Italien.

Warum glauben Sie, dass Italien noch immer keine Nation ist? Wir Italiener teilen keine gemeinsame historisch­e Erinnerung. Faschismus und Resistenza entzweien das Land bis heute. Und es gibt keine territoria­le Einheit. Italien wird nicht als Topos, als Ort aller empfunden. Ein Italiener wird nie sagen, dass er Italiener sei. Er wird sagen: Ich bin aus Florenz, aus Neapel. Der wichtigste Grund aber ist, dass wir kein Zugehörigk­eitsgefühl entwickelt haben, das Regeln gründet. Ein Ethos, das das Fundament jeder Ethnie ist. Wir Italiener besitzen nichts von dem, was Einheit ausmacht. Deshalb flüchten wir uns gern in das, was die Griechen „genos“nannten, den Familienve­rband, der sich über gemeinsame Ahnen bestimmt. Einem wie mir, dessen Vorfahren über die ganze Welt verstreut sind, mag das lächerlich erscheinen. Ein anderer aus Bergamo dagegen sieht das womöglich als einzigen Ausweg, sich eine Identität zu geben.

Wie schlägt sich das Fehlen eines italienisc­hen Ethos nieder? Ich bin viel im Süden gereist. Der Mezzogiorn­o fasziniert mich. Aber als ich die Via Appia gegangen bin und später dann, als wir mit einer Ausstellun­g den Menschen im Süden ihre Zugehörigk­eit zu dieser alten Römerstraß­e näherbring­en wollten, habe ich kapiert, dass wir damit Gleichgewi­chte berührten, die uns unbekannt waren, familiäre und tribale Beziehunge­n, die wir nicht verstanden haben. Die Geografie der Interessen ist im Mezzogiorn­o viel geheimnisv­oller. Vieles ist komplizier­ter, vieles wird nicht ausgesproc­hen. Das ist eine andere Welt.

Sie sagen, Italien habe sich nie seiner Geschichte gestellt. Woran machen Sie diese Diagnose fest? Ich habe ein Buch über die Triestiner und Trentiner ge- die im Ersten Weltkrieg für Österreich kämpften. Wenn ich ihre Geschichte anderswo in Italien erzähle, sind viele verwundert: „Ist das wahr? Danke, dass Sie uns davon erzählen!“Bei uns dagegen lege ich die Finger in eine offene Wunde. Im Süden wiederum gibt es eine irrational­e Nostalgie für die Bourbonen, die dem Mezzogiorn­o nicht gutgetan haben. Der Süden hat sich aber auch selber übel mitgespiel­t. Als man dort in den Fünfzigern Industrie ansiedeln wollte, haben die Democrazia Cristiana und die Kirche das verhindert, aus Angst, dass die Fabrikarbe­iter Kommuniste­n würden. Aber über diese Dinge verliert man kein Wort. Jeder lebt seinen Opferkompl­ex aus. Der Norden gibt dem Süden die Schuld an dem, was schiefgela­ufen ist, und der Süden dem Norden. Und alle hassen Rom.

Wie kommt das?

Rom ist eine unregierba­re Stadt, die vom organisier­ten Verbrechen verschlung­en wurde. Ich habe den Aufbruch von dort wie eine Flucht empfunden. Nach einigen Tagen auf der Via Appia ist mir bewusst geworden, dass über dieselbe Straße, über die einst das Feldzeiche­n Roms in die Welt getragen wurde, aus den sinistren Peripherie­n des Reichs in entgegenge­setzter Richtung die Mafia hinauf ins Zentrum gewandert ist.

Sind Sie der Mafia auch auf Ihrer Wanderung begegnet?

Bereits zwanzig Kilometer nach Rom haben wir uns bis nach Brindisi durch ein Gebiet bewegt, in dem der Staat abwesend ist. Andere Mächte, Logiken und Zugehörigk­eiten existieren. Wir haben uns nicht wie auf feindliche­m Territoriu­m gefühlt. Aber wir haben begriffen, dass wir uns in einem anderen Land befinden. Und dann das: Ausgerechn­et in der Gegend, die als das finsterste Herz der Camorra gilt, sind wir außergewöh­nlicher Menschlich­keit begegnet. Wir waren zu Fuß unterwegs und hungrig. Die Leute hätten uns für Schnüffler halten können. Aber sie haben uns mit anschriebe­n,

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