PREMIERE Kennmelodie des Grauens
„Jedem das Seine“von Silke Hassler und Peter Turrini im Grazer Schauspielhaus. Eine ebenso brillante wie berührende Neuvermessung der Grenzen zwischen Galgenhumor und Grauen.
Ein Wunschgedanke, unerfüllbar wohl und in endlos weiter Ferne, stellt sich bei dieser knapp zweistündigen, enorm eindringlichen Aufführung immer wieder ein. Dennoch, auch wenn es noch so illusorisch erscheinen mag: Warum verbannen diverse, dumpf grölende Burschenschafter die grauenhaften Liederbücher samt ihrem Gedankengut nicht in die hinterste Ecke? Und warum ersetzen sie all das ewig gestrige Geplärr nicht durch einige jener zutiefst bewegenden Lieder, die der Regisseur und Musiker Sandy Lopicˇic´ und behutsam und assoziativ in diesen herausragenden Theaterabend einfügte?
Jedem das Seine – es bekäme eine andere, aktuelle, angemessene Bedeutung. Der Satz stand auf der Innenseite zum KZ Buchenwald, er lieferte den Titel für das von Silke Hassler und Peter Turrini als Volksstück deklarierte Bühnenwerk. In Wahrheit ist es weitaus mehr als eine Tragikomödie über das Schicksal von neun ungarischen Jüdinnen und Juden, die es wenige Tage vor Kriegsende in eine Scheune verschlägt. Neusprachlich hieße das kurzzeitige Asyl wohl konzentriertes Zwischenlager.
Der mörderische Todesmarsch nach Mauthausen bleibt den ausgemergelten, ausgehungerten Deportierten erspart, das Inferno nicht.
Zumindest für ein paar Stunden will die Gruppe, die nur noch Verängstigung und Verzweiflung kennt, aus der barbarischen Welt entkommen, die nichts will außer ihren baldigen Tod. Eine grotesk erscheinende Flucht in eine künstliche, künstlerische Welt beginnt. Angeführt von einem exaltierten Pseudo-startenor, wird an einer Stadl-aufführung der österreichischen National-operette „Wiener Blut“gearbeitet. trotz des Kriegsendes
Die Scheune erweist sich als wahre Fundgrube – an Instrumenten, an Kostümen, die einst für Passionsspiele verwendet wurden. Und das vielfach angestimmte Lied „Wiener Blut“wird zur Kennmelodie des Grauens, in einem Requiem, das den Restvorräten an Fröhlichkeit und spontanem Witz einen kleinen Freiraum gewährt, treffsicher wie ein Stachel.
Silke Hassler und Peter Turrini gelingt mit ihrem viel zu selten gespielten Lehrstück über Verdrängungskunst (vielleicht liegt ja darin auch der Grund der Ignoranz) eine berührende Neuvermessung der Grenzen zwischen dem Galgenhumor und dem Grauen. Sandy Lopicˇic´ zeigt mit einem hoch motivierten Ensemble weitere Abgründe auf. Dunkles, Dämonisches fließt zwischen den Menschen auf der Bühne, sie reichen sich Zwischen Ns-wahnsinn und den
drüber hin mehr als nur die Hände. Und doch ist da ständig das Hintergrundrauschen des Nazi-wahnsinns, hörbar gemacht durch tiefe Bass-töne. Das Lachen oder Lächeln über die oft bizarre Szenerie gefriert nicht selten angesichts des Seelenfrosts, der draußen regiert.
Großartig ist es, wie Andri Schenardi als Operettenfanatiker versucht, all seine Gebrochenheit zu überspielen, tiefschwarz ist der Humor von Rudi Widerhofer als Schneidermeister. Und spätestens, wenn deelinde als Roma-frau jüdische Traditionals erklingen lässt, verwandelt sich das Grazer Schauspielhaus symbolisch in einen Ort der Gemeinsamkeit, des Miteinanders, des Verstehens von eigentlich Unfassbarem. So kann, so soll, so muss emotionales Theater sein. Nie buhlt es um Mitleid, stets macht es Leid erahnbar, spürbar. Sagen wir es frei nach Hölderlin: „Immer spielt ihr und scherzt? Mir geht dies in die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.“Wie wahr. Stehende Ovationen waren der gebührende Dank.