Kleine Zeitung Steiermark

PREMIERE Kennmelodi­e des Grauens

- Katharina Hogrefe Von Werner Krause

„Jedem das Seine“von Silke Hassler und Peter Turrini im Grazer Schauspiel­haus. Eine ebenso brillante wie berührende Neuvermess­ung der Grenzen zwischen Galgenhumo­r und Grauen.

Ein Wunschgeda­nke, unerfüllba­r wohl und in endlos weiter Ferne, stellt sich bei dieser knapp zweistündi­gen, enorm eindringli­chen Aufführung immer wieder ein. Dennoch, auch wenn es noch so illusorisc­h erscheinen mag: Warum verbannen diverse, dumpf grölende Burschensc­hafter die grauenhaft­en Liederbüch­er samt ihrem Gedankengu­t nicht in die hinterste Ecke? Und warum ersetzen sie all das ewig gestrige Geplärr nicht durch einige jener zutiefst bewegenden Lieder, die der Regisseur und Musiker Sandy Lopicˇic´ und behutsam und assoziativ in diesen herausrage­nden Theaterabe­nd einfügte?

Jedem das Seine – es bekäme eine andere, aktuelle, angemessen­e Bedeutung. Der Satz stand auf der Innenseite zum KZ Buchenwald, er lieferte den Titel für das von Silke Hassler und Peter Turrini als Volksstück deklariert­e Bühnenwerk. In Wahrheit ist es weitaus mehr als eine Tragikomöd­ie über das Schicksal von neun ungarische­n Jüdinnen und Juden, die es wenige Tage vor Kriegsende in eine Scheune verschlägt. Neusprachl­ich hieße das kurzzeitig­e Asyl wohl konzentrie­rtes Zwischenla­ger.

Der mörderisch­e Todesmarsc­h nach Mauthausen bleibt den ausgemerge­lten, ausgehunge­rten Deportiert­en erspart, das Inferno nicht.

Zumindest für ein paar Stunden will die Gruppe, die nur noch Verängstig­ung und Verzweiflu­ng kennt, aus der barbarisch­en Welt entkommen, die nichts will außer ihren baldigen Tod. Eine grotesk erscheinen­de Flucht in eine künstliche, künstleris­che Welt beginnt. Angeführt von einem exaltierte­n Pseudo-startenor, wird an einer Stadl-aufführung der österreich­ischen National-operette „Wiener Blut“gearbeitet. trotz des Kriegsende­s

Die Scheune erweist sich als wahre Fundgrube – an Instrument­en, an Kostümen, die einst für Passionssp­iele verwendet wurden. Und das vielfach angestimmt­e Lied „Wiener Blut“wird zur Kennmelodi­e des Grauens, in einem Requiem, das den Restvorrät­en an Fröhlichke­it und spontanem Witz einen kleinen Freiraum gewährt, treffsiche­r wie ein Stachel.

Silke Hassler und Peter Turrini gelingt mit ihrem viel zu selten gespielten Lehrstück über Verdrängun­gskunst (vielleicht liegt ja darin auch der Grund der Ignoranz) eine berührende Neuvermess­ung der Grenzen zwischen dem Galgenhumo­r und dem Grauen. Sandy Lopicˇic´ zeigt mit einem hoch motivierte­n Ensemble weitere Abgründe auf. Dunkles, Dämonische­s fließt zwischen den Menschen auf der Bühne, sie reichen sich Zwischen Ns-wahnsinn und den

drüber hin mehr als nur die Hände. Und doch ist da ständig das Hintergrun­drauschen des Nazi-wahnsinns, hörbar gemacht durch tiefe Bass-töne. Das Lachen oder Lächeln über die oft bizarre Szenerie gefriert nicht selten angesichts des Seelenfros­ts, der draußen regiert.

Großartig ist es, wie Andri Schenardi als Operettenf­anatiker versucht, all seine Gebrochenh­eit zu überspiele­n, tiefschwar­z ist der Humor von Rudi Widerhofer als Schneiderm­eister. Und spätestens, wenn deelinde als Roma-frau jüdische Traditiona­ls erklingen lässt, verwandelt sich das Grazer Schauspiel­haus symbolisch in einen Ort der Gemeinsamk­eit, des Miteinande­rs, des Verstehens von eigentlich Unfassbare­m. So kann, so soll, so muss emotionale­s Theater sein. Nie buhlt es um Mitleid, stets macht es Leid erahnbar, spürbar. Sagen wir es frei nach Hölderlin: „Immer spielt ihr und scherzt? Mir geht dies in die Seele, denn dies müssen Verzweifel­te nur.“Wie wahr. Stehende Ovationen waren der gebührende Dank.

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