Digitalisierung: „Wir kratzen an der Oberfläche“
In der Tourismusbranche breiten sich Big Data, künstliche Intelligenz und virtuelle Realität bei Buchungen und Bewerbungen aus.
Ein Blick nach rechts: ein halb eingestürztes Betonskelett eines Fabrikgebäudes gähnt einem entgegen. Ein Blick nach links: Ein verrostetes Jahrmarkt-riesenrad steht verloren in der Gegend herum. Alles echt, alles ganz knapp vor den eigenen Augen, alles zum Greifen nahe. Und doch nur virtuell. Mit entsprechenden Virtual-reality-brillen wirbt eine Handvoll Anbieter auf der weltgrößten Tourismusmesse ITB für ihre bizarren Besichtigungstouren. Das Ziel: die Sperrzone rund um das vor mehr als 30 Jahren implodierte Atomkraftwerk Tschernobyl. Angeblich 70.000 Besucher haben allein im vergangenen Jahr das Angebot genutzt und neben verlassenen Dörfern auch die unmittelvor Sperrzone besucht. Die radioaktive Belastung sei dort geringer als bei einem einstündigen Flug, wirbt ein Tour-operator. Die eindrucksvoll-beklemmenden Bilder in der virtuellen Kamera sollen bei der Überzeugungsarbeit helfen.
Ohne derartige Visualisierungshilfen, die den Gast schon vor dessen eigentlichem Besuch an den Reisezielort „beamen“, kommt fast keine Tourismusregion mehr aus. Ob Bayern oder Las Vegas, arabische Golfstaaten oder afrikanische Safarianbieter: Nicht nur in der Bewerbung erobert die Digitalisierung die Tourismusbranche mit rasanter Geschwindigkeit. Vor allem der Buchungsprozess ist ein durchdigitalisiertes Labor für Innovationen. Neben virtuellen Darstellungsformen gilt allem der Einsatz von künstlicher Intelligenz, also der Einsatz von maschinellen Lernalgorithmen, in Verknüpfung mit Big Data als wirtschaftlich hochpotentes Zukunftsfeld.
Während nur elf Prozent des weltweiten Handels online getätigt werden, sind es im Tourismus schon jetzt 49 Prozent. Und Buchungsplattformen wie Expedia, Booking.com oder Airbnb verfeinern ihr Angebot immer weiter. Detailliertere Suchkriterien, Ausschilderung von besonderen Angeboten, Zusatzservices, feinere Bewerbare
tungskataloge: All das soll die Zahl der Buchungen – bei Airbnb waren es allein in Europa zuletzt 142 Millionen Gästeankünfte – weiter in die Höhe treiben. „Wir kratzen da aber erst an der Oberfläche“, sagt Noreen Henry, Chef der Onlineideenschmiede Wayblazer, und verweist beispielsweise auf Projekte, die auf Basis von historischen Datenmengen fast fehlerfreie Zukunftsprognosen erstellen. Henry: „Google kann bereits Flugverspätungen vorhersagen, von denen selbst die Fluglinie noch nichts weiß.“