Ein turbulentes Jahr
Wer erinnert sich noch, wie die Republik vor 12 Monaten aussah? Nach einem beispiellosen Abschiedsreigen sind fast alle Spitzenpositionen neu besetzt – eine Chance.
In wenigen Tagen wird nichts mehr übrig sein von dem mächtigen Häuflein, das – manchmal seit Jahrzehnten – an den entscheidenden Schaltstellen gesessenwar und Österreich gelenkt hatte. Die große Bresche, die Sebastian Kurz bei seiner Regierungsbildung in den Reihen seiner eigenen Partei hinterließ, prägte sich am stärksten ein. Wann hat je ein Bundeskanzler ausnahmslos alle Kollegen, mit denen er in den Jahren davor regiert hatte, heimgeschickt?
Diehäutung derrepublikwar damit noch lange nicht zu Ende. Erwin Pröll hatte schon im April desvorjahres nach fast 25 Jahren an der Spitze Niederösterreichs das Feld geräumt, in wenigen Tagen wird ihm sein sozialdemokratisches Pendant, Wiens Langzeit-bürgermeister Michael Häupl, knurrend in die Pension folgen. Christoph Leitl räumt widerwillig schon vor dem EUVorsitz Österreichs seinen Posten an der Spitze der Wirtschaftskammer für Harald Mahrer. ÖGB-CHEF Erich Foglar soll im Juni Platz machen für Wolfgang Katzian, nach vergleichsweise kurzen zehn Jahren an der Spitze. Die Arbeiterkammer hat ihre Führung bereits erneuert und mitrenate Anderl eine Frau in die erste Reihe gestellt.
In demselben Jahr verlor Österreichs Parlament außerdem die Grünen, eine altgediente und kampferprobte Oppositionstruppe. Als Schwundstufe namens „Liste Pilz“führen sie noch ein kümmerliches Schattendasein, ohne die Regierung nennenswert bei der Arbeit stören zu können. In der Vorwoche kam den Neos ihr erst 45-jähriger Gründer und Parteichef, Matthias Strolz, abhanden. Ob er seinem Start-up, wie er hofft, einen Wachstumsschub oder den Todesstoß versetzt, wird sich bald zeigen. Und Christian Kern, der Chef der größten Oppositionspartei? Er trägt seine offenbar als Schmach empfundene politische Zurückstufung so demonstrativ unfroh, dass ihm darüber jede Sachlichkeit abhandengekommen zu sein scheint.
All das nützt der Regierung. Stünde sie einer kompakten Mauer aus eingespielten Sozialpartnern und kampflustigen Oppositionsparteien gegenüber, sie hätte die ersten Arbeitsmonate weniger unbeschädigt überstanden. Die Runderneuerung, die Sebastian Kurz seiner Partei aufgezwungen hat, fordert ihren Tribut. Erst langsam findet seine Phalanx aus Quereinsteigern in die Spur, werden die Fehltritte aus Mangel an Erfahrung seltener. Da trifft es sich gut, dass der Rest der Republik mit sich selbst beschäftigt ist. enseits aller taktischen Vorteile könnte sich die Runderneuerung auch inhaltlich als Chance erweisen. Will die Regierung tatsächlich große Umbauten an der Architektur des Landes vornehmen, lässt sich das sicher leichter mit Gegen- und Mitspielern umsetzen, die nicht für das Bisherige verantwortlich sind. Mit neuen Spielern lässt sich unbefangener über Sinn und Unsinn gewachsener Strukturen streiten. Vielleicht, ja vielleicht lässt sich sogar in unserem so wenig reformbegeisterten Land ein bisschen etwas ändern.
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