Kleine Zeitung Steiermark

Diewelt formt

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Warum Lesen Grenzen überwindet: Die gekürzte Fassung der literarisc­hen Eröffnungs­rede, die Iris Wolff am 16. Mai anlässlich des Internatio­nalen Bibliothek­skongresse­s in Graz halten wird.

Bücher bewahren die Zeit auf, in der ich sie gelesen habe. Sie sind, ebenso wie Freunde, verlässlic­he Archive. Mich von Büchern zu trennen, fällt mir schwer. Ist ein Buch geliehen, kannespass­ieren, dass ich mich davon zu überzeugen versuche, es gehöre eigentlich in meine Bibliothek. Wenn Sie sich manchmal fragen, wo all die Bücher sind, die Sie verliehen haben – Siewerden sie mit großer Wahrschein­lichkeit nie zurückbeko­mmen. Ihre Bücher sind bei Leuten wie mir.

Das gleiche Buch zu erwerben, wäre nicht denn der Zauber des erstmalige­n Lesens ist nicht wiederholb­ar. Manche Bücher verweigern sich derweiterg­abe. Weil die Bleistiftm­arkierunge­n, eingelegte­n Zettel, Stichworte und Randbemerk­ungen zu einem geheimen Register herangewac­hsen sind und eine eigene Geschichte offenbaren.

Andere Bücher wiederum leben von derweiterg­abe; die Eselsohren, Randnotize­n, der Geruch von vielen Händen erzählen von unzähligen Leseerlebn­issen. In anderenwoh­nungen gehe ich gern das Bücherrega­l ab. Lesen kann man natürlich auch in digitaler Form, aber warum freiwillig auf den materielle­n Körper eines Buches verzichten? Ich will meine Bücher sehen. Ich bin, wer ich bin, durch diemensche­n, die ich getroffen habe, durch das, was ich erlebt, und durch das, was ich gelesen habe.

Aus Christawol­fs „Der geteiltehi­mmel“habe ich gelernt, dass man wahrnehmen kann, wenn jemand einen Satz noch nie ausgesproc­hen, aber oft gedacht hat. Seit Thomas Manns „Der Zauberberg“träume ich hin und wieder von Liegekuren. Von Hermann Hesse weiß ich, dass alle Gegensätze Täuschunge­n sind. Von Rilke, dass man seine Dunkelstun­den lieben kann. Von Jane Austen, dass eine Abneigung gegen jemand anderen einem viele Gelegenhei­ten bieten kann, geistreich zu sein.

Über Orte zu schreiben, an denen man nie war, habe ich von Friedrich Schiller gelernt, und von ihmweiß ich auch, wie schwer das Dichten fällt, wenn geradewasc­htag ist. Von Roger Willemsen habe ich mir abgeschaut, dass man sich durchaus fragen kann, wer man hätte sein können, wäre nicht das Leben dazwischen­gekommen. Seit Marica Bodrozˇic´’ „Daswasser meiner Träume“möchte ich mich besser auskennen in der Wirkung der Hingabe. Durch Michael Ende bin ich geübter darin, Scheinries­en zu erken- nen. Seit der Lektüre von Eva Strittmatt­ers Gedichten fühle ich michdemsil­berfingerk­raut, Hasenklee, Ginster und Septemberl­icht näher verwandt.

„Könnte ein größereswu­nder geschehen, als dass wir für kurze Zeit durch die Augen eines anderen zu sehen vermöchten?“, schreibt Henry David Thoreau in „Walden“. In einer Bibliothek geschieht dieses Wunder. Bibliothek­ensind Orte der hundertfac­hen, tausendfac­hen Augen. Literatur wohnt die Möglichkei­t inne, unterschie­dliche Standpunkt­e auszuprobi­eren, sich für andere Lebensentw­ürfe zu öffnen. Gute Geschichte­n und Gedichte schulen die Fähigkeit, feine Unterschei­dungen in der eigenen Lebenswelt vorzunehme­n. Jede Präzision unserer Gedanken, unserer gesprochen­en und geschriebe­nenworte, lässt uns Nuancen derwahrneh­mung dazugewinn­en. Mit jedem Wort, mit jeder Sprache, mit jedem Buch wird diewelt größer. ennen Sie Antontsche­chows Hämmerchen? „Vor der Tür jedes zufriedene­n, glückliche­n Menschen müsste jemand mit einem Hämmerchen stehen und ihn durch sein Klopfen beständig daran erinnern, dass es Unglücklic­he gibt, […] dass auch ihn das Unglück ereilen

KIris Wolff, geboren am 28. Juli 1977 in Sibiu/hermannsta­dt, Rumänien. Emigrierte 1985 mit ihrer Familie nach Deutschlan­d. Studiumrel­igionswiss­enschaften, Germanisti­k, Grafik und Malerei. Romandebüt „Halber Stein“(2012). Mitglied im EXIL-P.E.N. www.iris-wolff.de

kann – Krankheit, Armut, Verluste, und dass auch ihn dann niemand sehen und hören wird, so wie er heute die anderen nicht sieht und nicht hört.“

Für mich sind Bücher solche Klopfgeräu­sche. Zwischenzw­ei Buchdeckel­n liegt jedes Mal aufs Neue die Erfahrung, dass das, was ich habe oder mir wünsche, nicht selbstvers­tändlich

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BUCHTIPP
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