Goethe dividiert durch Gauß
Mathematik ist das schulische Angstfach Nummer eins. Doch die Digitalisierung nimmt darauf keine Rücksicht. Die „Schwester der Künste“braucht eine Image-politur.
Die Mathematik-zentralmatura sorgt heuer auch außerschulisch für Kopfzerbrechen: Erste Zahlen lassen hohe Durchfallraten erwarten. Die Politik zeigt sich alarmiert, Bildungsminister Faßmann will „evaluieren“(nicht die Schüler, sondern die Maturaaufgaben). Und der Bundesschulsprecher beklagt, man habe Themen abgeprüft, die „ein mathematisches Grundverständnis voraussetzen“. Das darf natürlich keinesfalls sein.
Der Anlass wirft ein Schlaglicht auf den schlechten Ruf des mit Abstand gefürchtetsten Schulfaches. Generationen von Schülern verbinden mit Mathematik Versagensängste, Schummelzettel, Nachhilfewahn und das Gefühl, verlorene Zeit für eine verlorene Sache zu opfern, die der Taschenrechner sowieso besser kann.
Die allgemeine Mathe-aversion ist schlecht – nicht nur wegen der individuellen Nöte, sondern auch politisch, wirtschaftlich, kulturell. Selbst der letzte Technik-feind muss inzwischen einräumen, dass die digitale Informationsrevolution die Gesellschaft auf den Kopf stellt. Es passiert nicht weniger, als dass wir zwischen Algorithmenund selbstlernenden Systemen das Menschsein auf diesem Planeten neu definieren.
Die Politik versucht seit einigen Jahren, mit der Forcierung der „Mint-fächer“(Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) und mit der Förderung von Frauen in Technikberufen zaghafte Antworten zu geben. Was sie noch nicht geschafft hat, ist dasniederreißen kultureller Schranken. Die technikfeindliche Grundhaltung des Bildungswesens ist eine europäische Tradition: Goethe war immer irgendwie wichtiger als Gauß. Und erwurde dünkelhaft auch als qualitativ höherstehend identifiziert.
Das steht in augenfälligem Gegensatz zum Ingenieursoptimismus Us-amerikanischer Prägung. Im angloamerikanischen Hochschulwesen stehen am Beginn ein fröhliches „Yes, we can“und am Ende kommer- zielle Daten-giganten à la Google, Amazon, Facebook, über deren erdrückende Vorherrschaft Europa dann gerne klagt.
Selbstverständlich soll man die Zukunft nicht der eindimensionalen Ratio von technokratischen Zahlenmenschen überlassen. Aber genau darum ginge es ja: Wir sollten die Mathematik nicht länger als exotische Orchidee für Computer-nerds marginalisieren, sondern sie als überwältigendes Strukturprinzip in die Mitte des (Bildungs-)lebens rücken.
„Mathematik ist die Schwester der Künste, sie ist berührt von demselben Wahnsinn und Genie“, schrieb der Us-mathematiker Marston Morse 1950. Sein Münchner Fachkollege Günter Ziegler ergänzt: „Sie begleitet uns vom ersten Knoten in den Schnürsenkeln bis zum künstlichen Kniegelenk.“ie pralle Buntheit und die kurzweilige Virtuosität mathematischer Denkmuster und Anwendungen kindgerecht zu vermitteln – das wäre die Aufgabe didaktisch hochbegabter Lehrer. Je mehr von ihnen wir haben, desto weniger müssen wir die digitale Revolution fürchten.
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