War alles falsch?
Ein Veteran blickt irritiert zurück: Der Berliner Historiker Götz Aly über das Jahr 1968 und was davon bleibt.
Warum weckt 1968 selbst so viele Jahre danach noch so starke Emotionen?
GÖTZ ALY: Diese Revolte hatte etwas sehr Rechthaberisches. Sie hat Menschen hervorgebracht, die glaubten, auf der besseren Seite der Menschheit zu stehen. Ohne selber eine reale Leistung zu vollbringen, haben sie daraus ein Gefühl der moralischen Überlegenheit abgeleitet. Dieser Gestus ist den Achtundsechzigern geblieben. Wenn ich zum 65. Geburtstag eines ehemaligen Genossen eingeladen bin, dann treffe ich auf eine von sich überzeugte Gesellschaft, die revolutionsselig ihre Sturm-und-drang-zeit als Geschichte einer frommenheilsarmee verklärt. Versucht man, dieses Selbstbild zurechtzurücken, reagieren viele empfindlich.
Sie gehörten damals zu den radikalsten Revoluzzern. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?
1968 war wie eine religiöse Erweckungsbewegung. Und es funktionierte auch wie eine Sekte. Wir waren die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft. Das Verstörende daran ist, wie rasch wir uns eine eigene innere und nach außen hermetisch abgeriegelte Wahrheit geschaffen haben, die fern jeder Realität war.
In Ihrer furiosen, in Buchform erschienenen Abrechnung mit 1968, „Unser Kampf“, schreiben Sie, Sie hätten Dinge getan, für die Sie sich heute schämten. Was für Dinge meinen Sie denn?
Da ist ein besonders schäbiges Flugblatt, mit dem wir 1971 zur „Schweinejagd“an der Freien Universität in Berlin aufgerufen haben. Die „Schweine“waren liberale Professoren. Sie und nicht die alten Nazis, die zum Teil offen mit uns sympathisierten, waren unsere Hauptfeinde, weil wir sie für die klugen Charaktermasken des kapitalistischen Systems hielten. Was mir heute am peinlichsten ist: Das größte „Schwein“war Richard Löwenthal, der als Jude verfolgt worden und trotzdem aus dem Exil zurückgekehrt war. Er wurde auf der Karikatur mit dem antisemitischen Schlachtruf „Hepp!“auf dem Misthaufen der Geschichte entsorgt.
Für Sie ist der Exzess im Rückblick kein Zufall. Warum?
1968 war getrieben von den Pathologien des 20. Jahrhunderts. So wie unsere Väter, die sich als Junge für die Nationalsozialisten begeistert hatten, wollten auch wirachtundsechziger eine neuewelt erschaffen. So wie sie dachten wir in einem FreundFeind-schema und haben die Kuhwärme des Kollektivs gesucht. Und so wie sie waren auch wir bereit, die Hindernisse auf dem Weg ins Gelobte Land mit Gewalt aus demweg zu räumen. Wenn man heute im Tagebuch von Rudi Dutschke liest, dann ist das von A bis Z revolu- tionsromantisches, totalitäres Denken. Als sein Kampfgenosse Fritz Teufel ins Gefängnis musste, hielt Dutschke eine Rede, in der er an den Brand deswiener Justizpalastes im Jahr 1927 erinnerte. Das war ein klarer Aufruf zur Gewalt!
Aber trennt die Achtundsechziger insgesamt nicht mehr von ihren Vätern, als sie verbindet?
Unsere Väter waren vom Krieg schwer traumatisierte, schwache Individuen. Spätestens 1945 war ihnen klar, dass sie für die falsche Sache gekämpft hatten. Das hat zu verhärteten Familien und seltsamen Autoritäten geführt, die wussten, dass sie keine waren. Dieser Enge wollten wir entfliehen. Doch wir haben vom totalitären Gift mehr abgekriegt, als uns bewusst war.