Eine Frage des Gewissens
Als Moskau Panzer schickt, um den „Prager Frühling“militärisch niederzuschlagen, hat Rudolf Kirchschläger, damals Gesandter in Prag, eine folgenschwere Entscheidung zu treffen. Sein Sohnwalter erinnert sich.
Es ist spät am Abend des 20. August 1968, als die „Operation Donau“beginnt. Mehr als eine halbe Million sowjetischer Soldaten, schwer bewaffnet, marschieren über die Grenze in die Tschechoslowakei. Sie bewegen sich Richtung Prag, sperren Straßen, besetzen Redaktionen. Panzer rollen laut donnernd durch die Straßen. Der Kreml hat seine Entscheidung getroffen: Die größte Militäraktion in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ist in Gang gesetzt. Sie soll den „Prager Frühling“, die liberale Reformbewegung der Tschechen und Slowaken, niedergeschlagen. Am Ende des Einmarsches werden mehr als 100Menschen tot sein. Alexander Dubcˇek, Chef der tschechoslowakischenkpund Galionsfigur der Erneuerungsbewegung, wird vier Stunden nach der Landung der ersten Kommandotruppen festgenommen und nachmoskau verfrachtet.
Walter Kirchschläger ist zu jenem Zeitpunkt 21 Jahre alt und Student. Sein Vater Rudolf Kirchschläger, späterer österreichischer Bundespräsident, steht zu jener Zeit an der Spitze der österreichischen Vertretung in der SSR, damalsˇnochc Gesandtschaft genannt. Für Nachbarstaaten wie Österreich war die Lage heikel. Am 22. August fährt die Familie Kirchschläger, angesichts des Einmarsches aus dem Urlaub nach Prag eilend, um 11 Uhr von Wien aus Richtung tschechoslowakischer Grenze. Kurz nachnova Bistrica begegnet sie der ersten sowjetischen Fahrzeugkontrolle: 60 Lkw, leichte Geschütze. Als die Kirchschlägers in Prag ankommen, sind bereits siebentote und 249Verletzte zu beklagen.
Der Gesandte versucht, sich ein Bild der Lage zu verschaffen. Es ist Urlaubszeit, sein Sohn springt als Fahrer ein. Kirchschläger kennt die Freigeister des Prager Frühlings, versucht herauszufinden, wie es ihnen seit dem Einmarsch geht, wer Hilfe braucht. Keine leichte Aufgabe. „Die Prager hatten Straßentafeln, Hausnummern und Namensschilder abmontiert, um gefährdete Personen zu schützen“, erzählt Walter Kirchschläger. „An den Tankstellen wurden die Kennzeichen von Geheimdienstfahrzeugen angeschrieben.“
Begonnen hatte der Prager Frühling im Winter. Am 5. Jänner 1968 übernahm Dubcˇek, zuvor Kp-chef der Slowakei, den Posten des Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPCˇ). Dubcˇek hatte Träume: Er betrachtete den Sozialismus zwar als beste Gesellschaftsform, war aber unzufrieden mit der Umsetzung. Er wollte für die Tschechoslowakei einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Kaum einen Monat im Amt, lockerte Dubcˇek die Pressezensur. Die KPCˇ verzichtete auf ihr Machtmonopol. Den Bürgern wurde das Recht zugestanden, sich zu versammeln und frei ihre Meinung auszudrücken. Vor allem die jungen Im Stadtzentrum von Prag standen
Tschechoslowaken waren begeistert. Moskau war es nicht. Während Breschnew zunächst noch zögerte, malten Außenminister Gromyko und KGB-CHEF Andropow bereits früh eine Spaltung des Warschauer Paktes an die Wand. Auch bei den Hardlinern in Polen, Bulgarien und Ungarn ertönte der Ruf, den Reformen in Prag Einhalt zu gebieten. Zu groß war die Angst, dasvirus der Liberalisierung könne um sich greifen. Dubcˇek jedoch ließ sich nicht einschüchtern. Er wollte den Sozialismus nicht abschaffen, sondern erneuern. Mitte August lässt Breschnew ihn fallen.
Heikel ist die Lage nach dem Einmarsch auch an der Gesandtschaft in Prag. Die Enttäuschung, durch Moskaus eiserne Faust aller Träume beraubt zu sein, treibt viele außer Landes. Vor dem Gebäude stehen die Menschen in Schlangen. Kirchschläger entscheidet, dass die Visa-erteilung übers Wochenende fortgesetzt wird. Man organisiert Busse, um gefährdete Personen nachwien zu bringen.