In der Natur des Menschen
Die tragische Rolle des Liverpool-torhüters im Champions-league-finale und die darauf folgenden Verhaltensmuster stehen für vieles, was dem Menschen widerfahren kann.
Der französische Philosoph und Schriftsteller Albert Camus hat der Welt folgende Erklärung hinterlassen: „Alles, was ich im Leben über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe, verdanke ich dem Fußball.“Der 1960 tödlich verunglückte Literaturnobelpreisträger wusste, worüber er sprach, denn in seiner Jugend war der leidenschaftliche Fan selbst aktiv, als Tormann. „Man darf ihm keinen Vorwurf machen. Erst wenn man selbst mitten im Wald steht, merkt man, wie schwer es ist“, kommentierte Camus einmal den Fehler eines Torhüters.
Das Finale der Champions League zwischen Real Madrid und dem FC Liverpool ist ein geradezu exemplarisches Beispiel für den Kosmos, den der Fußball zu bieten imstande ist. Die Spannweite umfasst den gesamten physischen und psychischen Bereich, sie reicht vom Versagen bis zur höchsten Kunst, von der tiefen Verzweiflung bis zum größten Triumphgefühl. Und sie kommen einander sehr nahe, die Extreme, zeitlich wie räumlich. Auch im Verhalten der direkt und indirekt betroffenenmenschen. Liverpool-torhüter Loris Karius, mit zwei folgenschweren Fehlern die tragische Figur in diesem Endspiel, war nach dem Schlusspfiff auf dem Platz auf sich allein gestellt. Die viel gepriesene mannschaftliche Solidarität war ausgeblieben, kein Kollege hatte sich zunächst an seine Seite begeben. Die Fans bewiesen dafür jenes Gespür, das die Mitspieler vermissen ließen und sangen „You’ll never walk alone“. Manchmal hilft es buchstäblich, dem Volk aufs Maul zu schauen.
Erst vor wenigen Wochen hatte der deutscheweltmeister Per Mertesacker Aufsehen erregt, als er in einem Interview von geradezu unerträglichem Druck im Profifußball sprach. Die Reaktionen darauf fielen höchst unterschiedlich aus. So mancher vermeintlich Fachkundige bekundete Unverständnis, ließ Spott und Häme freien Lauf. Ein plumper, aber- witziger Reflex. Demgegenüber durfte sich Mertesacker aber auch zahlreicher positiver Wortmeldungen erfreuen. er rasch (ver-)urteilt, vergisst, wie sehr der Mensch auch in seinem Alltag im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit gefangen sein, die Angst vor dem Versagen zum ständigen Begleiter werden kann. Wer die Ansicht vertritt, solche Fehler dürften im Hochleistungssport nicht vorkommen, unterliegt der irrigen Annahme, die Leistungsfähigkeit des Individuums sei beliebig erweiterbar. Auch die Arbeitswelt ist vor solchen fehlgeleiteten Annahmen nicht gefeit.
Der frühere deutsche Weltklassetorhüter Oliver Kahn – ihm ist in einemwm-finale Folgenschweres passiert – hat sich als Tv-co-kommentator über die Häufung von öffentlichen Tränenflüssen mokiert. Den Menschen als Gefühlswesen zu tadeln – das ist zumweinen.
Zumfinale noch ein Einwurf: „Ich begriff sofort, dass der Ball nie so auf einen zukommt, wie man es erwartet.“Auch das hat Camus gesagt. Eine Weisheit fürs Leben.
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