„Basta! Genug!“
Zauber des ersten Ferientages ist vor zwei Jahren verflogen, nachdem unsere Jüngstematuriert hatte. Seit damals gibt es keinen gemeinsamen Anfang mehr. Während Klemens und Jakob schon seit ein paartagen entspannt in den Tag hineinleben, büffelt Sophie noch für die große Abschlussprüfung des ersten Studienabschnitts in Veterinärmedizin, meist zwölf Stunden täglich.
Die schönste Zeit des Jahres, die unbeschwerten Tage im Sommer, ohne Pflichten und Angst vor dem Versagen, begannen viele Jahre immer gleich. Nachdem Astrid die Zeugnisse in der Dokumentenmappe abgelegt hatte, drückte sie jedem Kind ein Blatt Papier in die Hand, auf dem sie penibel aufgelistet hatte, was alles einzupacken war: 14 T-shirts, 14 Paar Socken, 14 Unterhosen, den Kuschelpolster, das Stofftier usw. Noch am Abend fuhren wir los mit unserem alten Bus, Vater, Mutter und die Kinder, von denenzwei auf einer eigens im Kofferraum montierten Bank sitzen mussten. Diese Plätze waren immer sehr begehrt, obwohl man von dort nicht hinausschauen konnte, weil sie von Gepäckstücken regelrecht eingemauert waren.
Die Fahrt – ein großes Abenteuer, und sobald wir dann frühmorgens am kleinen Campingplatz am Tyrrhenischen Meer ankamen, wiederholte sich viele Jahre dasselbe Ritual: Die Frau des Besitzers, die wir lie- bevoll „das Hexlein“nannten, zählte die Kinder, und wenn wieder eines mehr im Bus saß, umarmte sie mich heftig, küsste mich auf beide Wangen und rief: „Complimenti! Complimenti!“Nur nach Kind Nummer 9 gab sie mir zu den Küssen auch zwei leichte Ohrfeigen und schrie: „Basta! Genug!“
Wenn wir heuer nach Italien fahren, wird der Bus nicht einmal halb voll sein. Nur zu fünft sind wir in der ersten Woche, dann trudeln die anderen aus al- len Himmelsrichtungen ein, Benedikt und Klemens aus Korsika, Jakob aus Aserbaidschan, Anna aus Deutschland. Der Älteste kommt gar nicht mit, weil er mit seiner Familie schon für ein Jahr in die USA aufgebrochen ist. Es tut ein bisschen weh, aber die Zeit lässt sich leider nicht zurückdrehen. So wie früher wird es nie mehr.
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