Zum Alltag
Frankreichs Wm-triumph weckt Hoffnungen auf politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt.
Es ist Wochenbeginn. Doch in Paris geht es zu wie an einem Wochenende. Die letzten Nachtschwärmer gehen nach Hause: blass im Gesicht, die Stimme heiser, ein Lächeln andeutend. Das Glück, dass Frankreich Fußballweltmeister ist, beseelt die Menschen auch an den Tagen danach. An den Bistrotresen, wo Fans mit um die Schultern geschlungener Trikolore an einem doppelten Espresso nippen, um einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen, gibt es nur einthema: den Wm-sieg.
Und es wird auchweitergefeiert. Im offenen Bus rollen die Wm-helden am späten Montagnachmittag die Champs-élysées hinab. Die Scherben vor dem Nobelrestaurant Drugstore sind eingesammelt. Zum Plündern entschlossene Jugendliche hatten sich dort mit Champagner- und Weinflaschen eingedeckt, bevor sie unter Tränengasbeschuss das Weite suchten. Dass der Jubel mit Gewalt einherging – jenseits der Landesgrenzen hätte es vermutlich Begeisterung in Bestürzung umschlagen lassen. In Frankreich tut es der Stimmung kaum Abbruch.
Diemelange aus überbordender Freude und überbordendem Zorn ist dort nicht neu. Zu Silvester oderamnationalfeiertag gehört Randale ebenfalls dazu. In den von Einwanderung, Arbeitslosigkeit und Armut gezeichneten Vorstädten gehen zur Feier des Tages dann Autos in Flammen auf und Scheiben zu Bruch. „Wo gefeiert wird, geht halt auch was kaputt“, sagt ein Passant, der sich die Stimmung nicht vermiesen lassen will. ine Französin verrät, dass sie die Ehrenparade der Wm-stars nutzen und den Wunderstürmer Kylian Mbappé küssen werde. Frankreich ist Weltmeister. Warum also sollte nicht auch dieser Traum in Erfüllung gehen? Zumal es ein vergleichsweise bescheidener ist. Mit dem Wm-triumph verbinden sich in Frankreich noch ganz andere, noch viel kühnere Hoffnungen: politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche.
Nicht zuletzt Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron hegt sie. Kaum war im Moskauer Luschniki-stadion der Schlusspfiff ertönt, sprang er auf, ballte die Fäuste, schlug auf imaginäre Punchingbälle ein,
Ebrüllte seine Freude hinaus. Eine immense Spannung schien in diesem Augenblick von ihm abzufallen. Dieser Sieg, signalisierte der Gefühlsausbruch, ist auch meiner.
In Beliebtheitsumfragen auf 32 Prozent Zustimmung abgestürzt, darf der Präsident in der Tat auf einen Popularitätsgewinn hoffen. Jacques Chirac jedenfalls, der Frankreichs Geschicke bestimmte, als die Blauen 1998 den ersten Wm-titel holten, profitierte von der sich ausbreitenden Euphorie. Ein Plus von 18 Prozentpunkten bescheinigten ihm Meinungsforscher.
Der Druck ist groß. Die Rechte warf Macron Halbherzigkeit in der Einwanderungspolitik vor. Die Linke kritisierte ihn als zum sozialen Kahlschlag ausholenden Wirtschaftsliberalen, der Politik für Eliten mache, während der Rest der Nation weiter zurückfalle. Frankreich gebe ein Schweinegeld für Sozialleistungen aus, hatte der sich sonst eher gewählterer Formulierungen bedienende Präsident geklagt. „Der Erfolg gibt mir recht“, kann Macron nun sagen. Zusätzliches Wirtschaftswachstum steht ins Haus. Ökonomen sagen für dieses Jahr ein Plus von 2,2 anstatt der prognostizierten zwei Prozent voraus – dem die Konsumenten zu Ausgaben verleitenden Fußballglück sei Dank.
Auch mag Macron sich in seiner Vorstadtpolitik bestätigt sehen. Der Präsident will der Banlieue mit Ausbildungsinitiativen helfen. Diejenigen, die bei derwmtriumphiert haben und die er gestern Abend im ÉlyséePalast willkommen hieß, dürften ihm willkommene Beweise dafür sein, dass es geht: dass man sich aus dem Vorstadtelend ganz nach oben arbeiten