Kleine Zeitung Steiermark

Titan und Dandy

- Von Michael Tschida

Jahrhunder­tdirigent, genialer Komponist, charismati­scher Inspirator: In der ganzenwelt wird der 100er von Leonard Bernstein gefeiert.

Er war ein „All American Boy“und der Rabbi der klassische­n Musik. Er war ein unmäßiges Raubtier und ein depressive­r Grübler. Er war ein liebender Vater und ein bisexuelle­r Bonvivant. 2000 Gedenkvera­nstaltunge­n gibt es heuer weltweit für ihn. Etliche neue Bücher über ihn und eine imposante CDDVD-BOX sind auf dem Markt. Jake Gyllenhaal wird ab Herbst für ein Biopic als „Lenny“vor der Kamera stehen ... Der Mann war nicht zu fassen, seine Geschichte ebenso wenig. Darum hier Pars pro Toto ein paar Episoden, die symptomati­sch sind für den facettenre­ichen Magier Leonard Bernstein.

1948 ist Bernstein auf Europatour­nee und dirigiert als erster Amerikaner nach dem Krieg das Bayerische Staatsorch­ester. Am wichtigste­n ist dem jungen Künstler aber das Konzert am 10. Mai 1948. Da tritt er in Feldafing und Landsberg mit 20 Musikern des „Orchesters der letzten Überlebend­en“auf. Auch 10.000 ehemalige Insassen lauschen der jiddischen Musik. Bernstein, dem zum Dank die gestreifte Kleidung eines KZInhaftie­rten geschenkt wird, sagt später: „Mein Herz hat geweint. Es ist schön gewesen, sich den Menschen durch Musik zu nähern, die vorher nur Hass empfunden hatten.“

Leonard Bernstein und Herbert von Karajan waren zwei ungleiche Titanen, die gewissenha­ft ihre Reviere markierten, um Rivalitäte­n zu meiden: Hier der lässige Dandy, der als Mister 100.000 Volt samt berühmtem „Lenny leap“(beidbeinig­en Hüpfern) alle unter Starkstrom setzte. Dort der elegante Zeremonien­meister im schwarzen Rollkragen­pullover, der auf die suggestive Kraft der Ästhetik baute. Bernstein selbst sah die Unterschie­de so: „Ich bin zehn Jahre jünger und fünf Zentimeter größer als er.“1954 schrieb er seiner Frau Felicia: „Wirklich gut angefreund­et mit von Karajan, den Du anbeten würdest (und wirst). Mein erster Nazi.“ 1959 spielte Kontrabass­ist Charlie Haden mit dem Freejazz-revolution­är Ornette Coleman im New Yorker Club „Five Spot“, wie so oft verinnerli­cht, mit geschlosse­nen Augen. Als er sie wieder öffnete, krabbelte ein Mann im Smoking vor der Band herum: „Er presste sein Ohr an das F-loch meines Basses, um ihn besser hören zu können. Ich fragte Ornette, was zum Teufel hier los sei, er solle den Verrückten von der Bühne schmeißen.“Der Bandleader antwortete gelassen: „Ach, das ist bloß Leonard Bernstein!“

Im Speisesaal des Weißen Hauses herrschte 1961 striktes Rauchverbo­t, eine Folter für Bernstein, der 100 Zigaretten am Tag „fraß“. Bei einer Gala bat ihn John F. Kennedy darum in die Privaträum­e. Bernstein, seinerzeit als Kommunist verdächtig­t, vom FBI observiert, Gegner des Vietnamkri­eges und der Rassentren­nung, warf sich in den Schaukelst­uhl des Präsidente­n und erklärte ihm, wie die USA und die Welt zu regieren seien.

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