Titan und Dandy
Jahrhundertdirigent, genialer Komponist, charismatischer Inspirator: In der ganzenwelt wird der 100er von Leonard Bernstein gefeiert.
Er war ein „All American Boy“und der Rabbi der klassischen Musik. Er war ein unmäßiges Raubtier und ein depressiver Grübler. Er war ein liebender Vater und ein bisexueller Bonvivant. 2000 Gedenkveranstaltungen gibt es heuer weltweit für ihn. Etliche neue Bücher über ihn und eine imposante CDDVD-BOX sind auf dem Markt. Jake Gyllenhaal wird ab Herbst für ein Biopic als „Lenny“vor der Kamera stehen ... Der Mann war nicht zu fassen, seine Geschichte ebenso wenig. Darum hier Pars pro Toto ein paar Episoden, die symptomatisch sind für den facettenreichen Magier Leonard Bernstein.
1948 ist Bernstein auf Europatournee und dirigiert als erster Amerikaner nach dem Krieg das Bayerische Staatsorchester. Am wichtigsten ist dem jungen Künstler aber das Konzert am 10. Mai 1948. Da tritt er in Feldafing und Landsberg mit 20 Musikern des „Orchesters der letzten Überlebenden“auf. Auch 10.000 ehemalige Insassen lauschen der jiddischen Musik. Bernstein, dem zum Dank die gestreifte Kleidung eines KZInhaftierten geschenkt wird, sagt später: „Mein Herz hat geweint. Es ist schön gewesen, sich den Menschen durch Musik zu nähern, die vorher nur Hass empfunden hatten.“
Leonard Bernstein und Herbert von Karajan waren zwei ungleiche Titanen, die gewissenhaft ihre Reviere markierten, um Rivalitäten zu meiden: Hier der lässige Dandy, der als Mister 100.000 Volt samt berühmtem „Lenny leap“(beidbeinigen Hüpfern) alle unter Starkstrom setzte. Dort der elegante Zeremonienmeister im schwarzen Rollkragenpullover, der auf die suggestive Kraft der Ästhetik baute. Bernstein selbst sah die Unterschiede so: „Ich bin zehn Jahre jünger und fünf Zentimeter größer als er.“1954 schrieb er seiner Frau Felicia: „Wirklich gut angefreundet mit von Karajan, den Du anbeten würdest (und wirst). Mein erster Nazi.“ 1959 spielte Kontrabassist Charlie Haden mit dem Freejazz-revolutionär Ornette Coleman im New Yorker Club „Five Spot“, wie so oft verinnerlicht, mit geschlossenen Augen. Als er sie wieder öffnete, krabbelte ein Mann im Smoking vor der Band herum: „Er presste sein Ohr an das F-loch meines Basses, um ihn besser hören zu können. Ich fragte Ornette, was zum Teufel hier los sei, er solle den Verrückten von der Bühne schmeißen.“Der Bandleader antwortete gelassen: „Ach, das ist bloß Leonard Bernstein!“
Im Speisesaal des Weißen Hauses herrschte 1961 striktes Rauchverbot, eine Folter für Bernstein, der 100 Zigaretten am Tag „fraß“. Bei einer Gala bat ihn John F. Kennedy darum in die Privaträume. Bernstein, seinerzeit als Kommunist verdächtigt, vom FBI observiert, Gegner des Vietnamkrieges und der Rassentrennung, warf sich in den Schaukelstuhl des Präsidenten und erklärte ihm, wie die USA und die Welt zu regieren seien.