Das gefährdete Einigungswerk
An der Migrationsfrage wird sich die Zukunft Europas entscheiden. Noch haben in der EU die Moderaten die Oberhand. Aber sie müssen ihrenworten endlich Taten folgen lassen.
Europa steuert auf einen heißen Herbst zu. Das sich anbahnende Ende mit Schrecken beim Brexit, der aufflammende Streit um die Verteilung des nächsten Unionsbudgets und die eskalierenden Eu-rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn und Polen werden die Gräben in der EU vertiefen.
Nie zerrten die Fliehkräfte so vielerkrisen an den Europäern. Und dennoch handelt es sich um Nebenschauplätze, gemessen an dem einen, dem großen, existenziellen Konflikt, der gegenwärtig alles beherrscht. An der Migrationsfrage wird sich Europas Schicksal entscheiden. Das sollte den Spitzen der EU und ihren Medieneliten spätestens seit Chemnitz klar sein.
Aber ist es das wirklich? Werden die Zeichen an der Wand richtig gelesen? Die Unwucht, die seit den tödlichen Messerstichen auf einen jungen Familienvater die öffentliche Debatte prägt, weckt Zweifel daran. So widerlich die Schläger sind, die durch die Straßen ziehen, den Hitlergruß zeigen und Ausländer attackieren, so inadäquat, ja hilflos wirken die Versuche von Politik und Medien, die Angst und Wut breiter Bevölkerungs- teile über das Vorgefallene in die üblichen braunen Schablonen zu pressen. Ja, Deutschland hat ein Problem mit seinen rechten Rändern. Es hat aber auch ein nicht minder akutes Problem mit jungen messerstechenden Migranten. Wenn sich die Lichtkegel grell auf das eine Übel richten, während das andere aus politischerkorrektheit imdunkeln bleibt, wird dies das Ohnmachtsgefühl vieler Bürger nur weiter verstärken.
Aber es ist nicht nur Deutschland, wo die Dinge ins Rutschen geraten. In Schweden legt der Wahlsieg der Populisten die tiefen Risse in der nordischenkonsensdemokratie bloß. In Italien haben die Jahre, da Europa Rom mit den Bootsflüchtlingen aus Afrika alleinließ, aus einem Volk selbstverständlicher Europäer eine Nation verdrossener Eu-skeptiker gemacht. Überall in Europa formiert sich – gedoppelt durch die Globalisierung und die mit ihr einhergehende Erosion der traditionellen lebensweltlichen Gewissheiten – eine mächtige Gegenströmung zur lange vorherrschenden linken Doktrin, durch offensive Multikulturalität ließe sich eine besserewelt erschaffen. ass Eu-kommissionspräsident Jean-claude Juncker heute in Straßburg offenbar weitreichende Vorschläge für eine Verschärfung der Asylpolitik und einen besseren Schutz der Außengrenzen vorlegen will, zeigt, dass man in Brüssel die Alarmsignale erkannt hat. Beim Migrationsgipfel kommendewoche in Salzburg sind nun auch die Staatenlenker gefordert.
Europa braucht einen Plan, eine Strategie, es braucht Lösungen. Die Zeit drängt. In acht Monaten finden Europawahlen statt. Noch haben in der EU die Moderaten das Heft in der Hand. Aber die klassischen Volksparteien, die das vereinte Europa einst gründeten, sind ermattet. Raffen sie sich nicht auf und lassen ihren Worten nicht endlich Taten folgen, könnten die radikalen Kräfte bald die politische Landschaft des Kontinents umpflügen.
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