Lasset die Kinder. . .
zum Eröffnungslied des Sonntagsgottesdienstes schiebt eine junge Mutter ihren Kinderwagen über die Schwelle. Sie ist sichtlich abgekämpft vom steilen Aufstieg auf den Kirchberg. Sie steuert die Kapelle der heiligen Anna an, wo sie das Gefährt parkt und die kleinetochter heraushebt, die ganz offensichtlich nicht vorhat, das Geschehen im Altarraumsitzend zu beobachten – immerhin kann sie seit einigen Wochen schwankend, aber ganz allein gehen.
Ihr großer Bruder hält immerhin die ersten Minuten der Liturgie still, bevor er routiniert von der Stellage mit dem Gotteslob Bilderbücher holt. Am Ende der Lesung haben sich die beiden sattgesehen an Noah und seiner Arche, an Jona im Bauch deswals und an Daniel in der Löwengrube. Es ist Zeit für eine kleine Jause. Die Mutter reicht Apfelspalten und Gurkenstücke und kann halbwegs ungestört das Evangelium hören. Während der Predigt jedoch unternimmt das Mädchen einen kleinen Rundgang zum Taufbecken, zur Kanzel und zum Verkaufstisch für Kirchenführer und Ansichtskarten.
Während der Wandlung vertreiben sich die Geschwister die Zeit, indem sie ein ums andere Mal ihre kleinen Zeigefinger in dasweihwasserbecken tauchen und einander abwechselnd das Kreuzzeichen auf die Stirn machen. Meine Gedanken schweifen zurück in jene Zeit, als unse- re Kinder noch klein waren und mehr oder weniger ruhig neben Astrid und mir auf der Bank saßen. Heute sind sie groß und begleiten uns nicht mehr.
Kurz vor dem Schlusssegen stolpert das Mädchen über eine Stufe. Ihr Weinen übertönt den Priester, der sich beim Chor für die Gestaltung der Messe bedankt. Mit einer (der Örtlichkeit angemessenen) Engelsgeduld tröstet diemutter diekleine, auch ein Traubenzuckerlutscher verfehlt seine sedierende Wirkung nicht. Als die Leute die Kirche verlassen, gibt das kleine Mädchen einzelnen Auserwählten kleine Stücke von ihren Manner-schnitten. Einige Kirchgänger runzeln genervt die Stirn, andere lächeln gerührt und nicken der Mutter aufmunternd zu. Vielleicht denken sie an die Stelle im Markusevangelium, wo Jesus seinen Jüngern ausdrücklich aufträgt, die Kinder zu ihm zu lassen.
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