Wir schaffen das. Vielleicht
Der Rückzug Angela Merkelswar absehbar. Für die Europäische Unionkommter dennoch zum ungünstigsten Zeitpunkt. Die Balance der Mächte gerät endgültig aus dem Lot.
Die zentrale Rolle der „großen Vier“in der EU ist schon Geschichte. Das Vereinigte Königreich schließt bald die Tür zur Union, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, vor nicht einmal zwei Jahren im Überschwang seines Wahltriumphs zum „neuen Anführer Europas“erklärt, kämpft mit innenpolitischen Querelen und sinkendenumfragewerten, Italien, in den Klauen der Populisten, hält den ganzen Kontinent in Schach – und nun Deutschland, der ruhende, stabile und wirtschaftlich abgesicherte Pol, aus dem sich Angela Merkel zurückziehen will.
Der Abgang Merkels hatte sich angekündigt. Die Kanzlerin mit dem aberwitzigen Terminkalender, die schon mal zwischen zwei Terminen in Berlin nach China jettete, hatte zuletzt immer öfter Zugeständnisse machen müssen, die an ihrem Bild als „mächtigste Frau der Welt“Kratzer hinterließen. Im Handelsstreit mit den USA etwa, der unter anderem die deutsche Autoindustrie massiv unter Druck setzte, erging es ihr beim Gespräch mit Donald Trump kaum anders als Macron: Die Erfolgsnachrichten blieben aus, konkrete Ergebnisse durfte später erst Kommissionspräsident Jean-claude Juncker einfahren. Da war auch die wichtige Rolle Deutschlands bei der Rettung Griechenlands schon längst wieder vergessen.
Den größten Riss in der EU aber, den konnte Merkel schon gar nicht kitten; sie musste sich vielmehr den Vorwurf gefallen lassen, ihn verursacht zu haben. „Wir schaffen das“– dieseworte wurden 2015 zum Symbol für offene Grenzen, endlose Ströme von Migranten und all die folgenden Probleme, die kein europäisches Land unberührt ließen. Migration, Balkanroute, Schlepperunwesen, die Toten im Mittelmeer, Anlandeplattformen, Schengengrenzen, Sekundärmigration, Dublinreform, Frontex-ausbau, Schutz der Außengrenzen – es ist müßig, darüber zu philosophieren, ob über all das auch gesprochen worden wäre, wenn Deutsch- land vor drei Jahren nicht die Willkommenskultur ausgerufen hätte. Und ob es damals Alternativen gegeben hätte. Dabei sind die Zuströme inzwischen längst versiegt und Deutschland schreibt wirtschaftlich ein Erfolgskapitel ums andere.
Merkel, konfrontiert mit der normativen Kraft des Faktischen, versuchte, die EU-LÄNder auf einen Kurs der Mitte zu bringen – etwa bei dem Migrationssondergipfel imjuni, den sie eine Woche vor dem eigentlichen Gipfeltreffen einberief. Sie blieb ihrer Linie treu, so weit es ging, sprach sich vor wenigen Tagen noch in Brüssel gegen das von Sebastian Kurz vorgeschlagene System einer „verpflichtenden Solidarität“für die Flüchtlingsverteilung aus. ie Eu-wahlen im kommenden Mai werden mit großer Wahrscheinlichkeit zu Einschnitten bei den beiden größten Fraktionen, den Volksparteien und den Sozialdemokraten, führen und vermutlich den Rechten einenaufschwung bringen. Wer in dieser Zeit zum Nachfolger einer Angela Merkel aufgebaut wird, auf den warten große Aufgaben. In Deutschland. Und in Europa.
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