Von Thomas Götz
Da war er wieder, der unverwechselbare Van-derBellen-ton. Es galt, eine Rede zum Nationalfeiertag zu halten. Für einen Mann, der den hohen Ton scheut, weil er leicht ins Hohle kippt, ein heikles Unterfangen. Wie der Bundespräsident den Text anlegte, sagt viel aus über sein Denken, die Früchte lebenslangen Suchens und die Lehren vieler Umwege.
Der Mann, der als junger Mensch in Tirol ÖVP gewählt hat, später der SPÖ beitrat und noch später die Grünen führte, weißumdie Relativität, also die begrenzte Haltbarkeit von Überzeugungen. Sie gelten bis zum Erweis ihres Gegenteils, bis sie an der Wirklichkeit zerschellen. „Anders als der radikale Standpunkt, der alles verachtet, was von der ,reinen Lehre‘ abweicht, nimmt das Österreichische die Realität zur Kenntnis“, erklärt Van der Bellen also am Feiertag der Nation seinem Publikum. „Es nimmt zur Kenntnis, dass die Welt eben nicht aus Schwarz und Weiß, aus unversöhnlichen Po- sitionen besteht, sondern dass eine Lösung zum Wohle aller immer in der Mitte liegt. Das hat uns in den letzten 100 Jahren erfolgreich gemacht. Immer, wenn wir das vergessen haben, sind wir blutig gescheitert.“
Mehr braucht der Redner nicht, um die dunklen Jahre des Jahrhunderts anzudeuten. Der kleine Satz genügt demmeister der Andeutung zur Warnung vor Wiederholungen alter Fehler. Er weiß, dass Schwarze Pädagogik, das Stilmittel so vieler Sonntagsreden, nicht nur der Grünen, zu nichts führt, dass sie allenfalls Gegenwehr auslöst. er Präsident, der den jungen Van der Bellen im Rückblick einen sozialistischen „Dogmatiker“nennt, musste die Mitte erst suchen. Suchen bedeutet, Entscheidungen unter dem Vorbehalt ihrer möglichen Revision zu treffen: einer Partei anzugehören, den Freimaurern, einer Kirche. Am Ende bleibt wenig übrig, was den Feuerofen der Realität heil übersteht. Es passt auf ein Blatt Papier – oder ein Stück Marmor.
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