Europas Konstruktionsfehler
Viele Themen, die uns politisch beschäftigen, gehen auf Konstruktionsfehler der EU zurück. Es empfiehlt sich, sie nüchtern zu betrachten.
Das vereinigte Europa ist ein welthistorisch einmaliges Experiment. Nationen, einst verkeilt in mörderischen Kriegen, schließen sich zusammen, öffnen ihre Grenzen, schaffen eine gemeinsame Währung und neue, übergeordnete Strukturen: das Eu-parlament, die Eu-kommission und den Rat der Regierungschefs. Ein kühnes Experiment.
Nun steht es auf der Kippe. Italien will sich nicht an die Regeln der Währungsunion halten. England wurde die Personenfreizügigkeit zu viel, eine knappe Mehrheit der Bevölkerung entschloss sich zum Exodus. Allerorten erstarken politische Bewegungen, die der Nation mehr Gewicht zubilligen wollen als den übergeordneten Körperschaften. Grenzen gehen wieder zu, Zahlungen für Familienmitglieder außerhalb der Landesgrenzen werden reduziert und ein fertig verhandelter UNO-PAKT zur Regelung von Migration wird abgelehnt. Was ist da los?
Die gängige Erklärung: Kühne Visionäre sehen sich bedrängt von hinterwäldlerischen Politikern, die um ihre nationalen Einflusssphären und Pfrün- den fürchten. Ganz falsch mag das nicht sein, es verdeckt aber die strukturellen Gründe für das Erstarken dieser Bewegungen. Und es verdeckt den Beitrag der Konstrukteure der Union an dieser Misere.
Beginnen wir mit dem Geld. Der Euro setzt gemeinsame Vorstellungen von Währungspolitik voraus. Die aber gibt es nicht und ein Pakt wie der Vertrag von Maastricht konnte langfristig nicht darüber hinwegtäuschen. Staaten, die gewohnt waren, ihre wirtschaftlichen Schwächen mit Währungsabwertungen auszugleichen, können das nicht mehr tun. Die Krisen in Griechenland, in Spanien, Portugal und nun in Italien waren absehbare Folge.
Die Grenzöffnung führt zu ähnlichen Verwerfungen. National beschlossene und finanzierte Sozialsysteme galten auf einmal fürmenschen, für die sie die nie gedacht waren. Der Streit um die Indexierung der Familienbeihilfe hat seine Wurzeln in diesem Widerspruch. Was die Überwindung von Nationalstaaten zum Ziel hatte, führt nun in einer paradoxen Gegenbewegung zu einem Erstarken derselben, zu einer grenzüberschreitenden Gerechtigkeitsund Neiddebatte, die niemand vorhergesehen hatte. uch der Streit um die Asylpolitik hängt damit zusammen. Bei offenen Grenzen wird ein gemeinsames europäisches Asylrecht mit gemeinsamen Verfahren nicht möglich sein. Auch Quoten sind sinnlos, wenn Menschen sich frei bewegen können. Dieser innere Widerspruch zeigt die Grenzen der Entstaatlichung der Union an. Nationalstaaten werden auf absehbare Zeit den Anspruch nicht aufgeben, bestimmen zu wollen, wer innerhalb ihrer Grenzen lebt. Das erklärt auch den Widerstand gegen den schwammigen Uno-migrationspakt.
All das nüchtern zu diskutieren, erschweren Ideologen und Hitzköpfe auf beiden Seiten. Beide behindern die Suche nach vernünftigen Lösungen.
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