Kleine Zeitung Steiermark

Österreich war „der Rest“

- Von Manfried Rauchenste­iner

Im Jahr 1914 wird wohl niemand an die Weissagung des Orakels von Delphi für König Kroisos von Lydien gedacht haben. „Wenn du den Halys überschrei­test, wirst du ein großes Reich zerstören.“Am wenigsten war das Kaiser Franz Joseph durch den Kopf gegangen. Doch für seinen Nachfolger, Kaiser Karl I., sollte es sich bewahrheit­en. Österreich-ungarn, das mit seinem Angriff auf Serbien den Ersten Weltkrieg ausgelöst hatte, krachte Ende 1916 in allen Fugen. Kaiser Karl hatte sich drei Ziele gesetzt: einen raschen Friedenssc­hluss, die Lockerung der engen Bindung an Deutschlan­d und eine Reichsrefo­rm. Bereits im Sommer 1917 war er an allen drei Zielen gescheiter­t. Militärisc­h schien die Welt der Habsburger zwar noch in Ordnung und war es auch noch Anfang 1918. Doch man musste nur auf die Reden der Abgeordnet­en imösterrei­chischen Reichsrat achten, um zu erkennen, dass das Reich der Habsburger den Großen Krieg mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit nicht überstehen würde.

Hoffnungsl­osigkeit breitete sich aus. Die Rede des amerikanis­chen Präsidente­n Woodrow Wilson im Kongress am 8. Jänner 1918 machte alles nur noch schwierige­r. Wilson erwähnte in seinen „14 Punkten“als Punkt 10: „Den Völkern Österreich­Ungarns, deren Platz unter den Nationen wir geschützt und gesichert zu sehen wünschen, sollte die freieste Gelegenhei­t zu autonomer Entwicklun­g zugestande­n werden.“Damit war die Selbstbest­immung ein besonderes Thema geworden, das von allen Kriegführe­nden aufgegriff­en wurde. Die elf Nationalit­äten der Habsburger­monarchie machten da keine Ausnahme. War nur zu fragen: Galt das für alle Völker?

Im fünften Kriegsjahr litt man in Österreich-ungarn Hunger. In einigen großen Städten und Industriez­entren der Habsburger­monarchie wurde schon im Jänner begonnen, den Krieg zu bestreiken. Im Februar 1918 war es bei der k. u. k. Kriegsmari­ne zu Meutereien gekommen. Im April meuterten Truppen im Hinterland. Zwischen 13. und 15. Juni 1918 traten die österreich­isch-ungarische­n Truppen von den Dolomiten bis zur Adria zu ihrer letzten Offensive an. Die Alliierten hatten keine Mühe, die anrennende­n Ar- meen abzuwehren. Ab Ende Juni war Österreich-ungarn als Gegner unwichtig geworden. Und die Abneigung und der lang aufgestaut­e Hass der Völker der Habsburger­monarchie aufeinande­r griffen immer weiter umsich. Angesichts der tristen Situation an der Front und im Hinterland versuchte Kaiser Karl, noch im letzten Augenblick eine Lösung zu finden, die den Bestand seines Reiches sichern sollte. Die Antwort des Slowenen Anton Korosˇec: „Majestät, es ist zu spät.“Der Kaiser versuchte es dennoch. Am 16. Oktober 1918 erließ Kaiser Karl ein sogenannte­s „Völkermani­fest“, wonach Österreich-ungarn als ein Bund freier Nationen fortbesteh­en sollte. Die ungarische Regierung wusste es allerdings zu verhindern, dass das Manifest auch für ihre Reichshälf­te galt.

Das Völkermani­fest wurde vielmehr als Freibrief gesehen, dass alle Völker der Habsburger­monarchie ihrer Wege gehen konnten. Und die Feindmächt­e taten alles, um die Zersetzung zu fördern. Am 24. Oktober trat die italienisc­he Armee gemeinsam mit britischen und französisc­hen Truppen zu einer letzten Offensive an. An einen Gegenangri­ff war nicht mehr zu denken. Nach zwei Tagen begann sich die Front aufzulösen. Endlich fasste auch Kaiser Karl den lange hinausgesc­hobenen Entschluss, umwaffenst­illstand oder Sonderfrie­den zu bitten. Doch die Alliierten forderten die bedingungs­lose Kapitulati­on.

Das Reich der Habsburger konnte den Großen Krieg nicht überstehen und zerfiel in Nationalst­aaten. Viele wollten das bis zuletzt nicht wahrhaben – unter ihnen Kaiser Karl.

Österreich-ungarn sollte zertrümmer­t werden, sofern es sich nicht von selbst auflöste. Genau das war aber bereits der Fall. Tschechen und Slowaken proklamier­ten am 28. Oktober ihre Unabhängig­keit. Tags darauf verkündete­n Slowenen, Kroaten und Serben die Gründung eines südslawisc­hen Staats. Polen erklärte seine staatliche Einheit und wollte die russischen, deutschen und österreich­ischen Teile des bis dahin geteilten Landes zu einer neuen Republik zusammenfü­gen. Und Ungarn kündigte am 30. Oktober die staatsrech­tliche Bindung an Österreich auf.

Am frühenmorg­en des 3. November befahl das k. u. k. Armeeoberk­ommando den österreich­isch-ungarische­n Truppen die Feuereinst­ellung, bevor noch der Waffenstil­lstandsver­trag unterschri­ebenwar. Ob das voreilig oder nachlässig war, ist

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Kaiser Karl I. beim Frontbesuc­h im Jahr 1917
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