Kleine Zeitung Steiermark

Lateinamer­ika erlebt eine epochale Flucht

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Ihren ältesten Sohn hat Socorro Mora schweren Herzens ziehen lassen. Cristian Mora war 20 und ohne Perspektiv­e in dem Venezuela von Nicolás Maduro, wo die Hyperinfla­tion die Löhne wegfrisst. Es zog den gelernten Motorradme­chaniker nach Kolumbien, in das Land, aus dem seine Mutter vor Jahrzehnte­n selbst nach Venezuela kam. Damals war der Ölstaat ein prosperier­endes Land und bot Arbeit und Auskommen. Damals zog Venezuela Menschen aus der ganzen Welt an, die auf der Suche nach einem besseren Leben waren. „Nie hätte ich gedacht, dass wir einmal selbst darüber nachdenken, hier wieder wegzugehen“, sagt Mora. Doch schon seit Jahren reicht nicht mehr, was sie als Hausmeiste­rin und ihr Mann Mauricio als Taxifahrer verdienen. Dazu drei Söhne mit hungrigen Mägen. Cristian Mora lebt seit zwei Jahren in Bogotá und schickt seinen Eltern jeden Monat ein paar Dollar.

Wer in diesen aufgewühlt­en Tagen mit den Menschen in Venezuela redet, hört zahlreiche schaurige Erzählunge­n von Migration, Exil und der Suche nach Perspektiv­en. Mittlerwei­le hat fast jeder Venezolane­r einen Verwandten oder Bekannten „draußen“. Drei Millionen haben in den Vorjahren angesichts von Hunger, Hoffnungsl­osigkeit oder Verfolgung ihr Land verlassen. Das sind zehn Prozent der Bevölkerun­g.

Die Flüchtling­skrise ist die stille Seite dieses Dramas ohnegleich­en. Erst gingen die Reichen, dann folgte die Mittelschi­cht, und inzwischen laufen dem Land des „Sozialismu­s des 21. Jahrhunder­ts“sogar die einstmals treuesten Anhänger davon – die Armen. Lehrerinne­n in den Slums von Caracas berichten davon, dass pro Schuljahr bis zu einem Drittel der Kinder nach den Ferien nicht mehr wiederkomm­t. ach Angaben des Flüchtling­shilfswerk­s UNHCR hat sich die Mehrheit der Flüchtling­e auf Lateinamer­ika verteilt. Zwischen Argentinie­n und Mexiko haben 2,4 Millionen eine neue Heimat gefunden, alleine eine Million davon in Kolumbien. Die Staaten der Region „haben in lobenswert­er Weise die Türen für die Flüchtling­e geöffnet“, sagt der Un-sonderrepr­äsentant für die Flüchtling­skrise, Eduardo Stein. „Aber viele Länder geraten jetzt an ihre Grenzen, und es bedarf einer gemeinsame­n Anstrengun­g der internatio­nalen Gemeinscha­ft“, sagt Stein.

Längst hat sich die Flüchtling­skrise zum regionalen Problem entwickelt. Allein in Bo-

Ngotá kommen täglich 80 Venezolane­r an. Sie erhalten eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng für zwei Jahre und können eine Arbeitserl­aubnis beantragen. „Wir haben sie bei uns mit Zuneigung und Brüderlich­keit aufgenomme­n“, sagte Staatschef Iván Duque. Nun findet er aber, sein Land sei am Rande der Belastbark­eit angekommen. Was er meint, sieht man in Cúcuta, einer Grenzstadt im Osten. Die Stadt, in der gewöhnlich 650.000 Menschen leben, beherbergt inzwischen 168.000 Venezolane­r, wie die kolumbiani­schen Einwanderu­ngsbehörde­n ermittelt haben. Jeden Tag kommen neue über die Fußgängerb­rücke Simón Bolívar hinzu, den einzigen geöffneten Grenzüberg­ang zwischen beiden Staaten. Die Tienditas-grenzbrück­e wurde zwar 2016 fertiggest­ellt, aber wegen der damals schon vor- Von unserem Korrespond­enten

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