Kleine Zeitung Steiermark

Rache, Respekt, Rechtsstaa­t

Ein achtjährig­er Bub wurde vor den Zug gestoßen. Kein Wort kann ihn zurückbrin­gen oder seine Eltern trösten. Dennoch muss man über die Folgen dieser Tat sprechen.

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Die Züge fahren wieder nach Plan. Auf der Internetpr­äsenz der Deutschen Bahn ist zwischen Lastminute-tickets und dem Hinweis auf das Gepäckserv­ice kein Platz für Trauer. Wären da nicht die Teddybären und Blumen bei Gleis sieben am Frankfurte­r Bahnhof, würde nichts an den Tod des achtjährig­en Buben erinnern, der am Montag vor einen Zug gestoßen wurde. Sein Leben ist zu Ende, das seiner Angehörige­n zerstört. Worte des Mitgefühls hört die Familie. Allein: Sie bringen niemanden zurück. Es bleibt Schmerz.

Die Tat geschah in Mordabsich­t, schreibt die Staatsanwa­ltschaft im Haftantrag. Der mutmaßlich­e Täter: Eritreer, 40 Jahre alt, Vater dreier Kinder, zum Tatzeitpun­kt weder unter dem Einfluss von Drogen noch von Alkohol. Das sind wichtige Details für die Debatte, die dieser – noch sagt man mutmaßlich­e – Mord auslöst. Ist es eine Debatte, die aus reflexarti­gen Rachegelüs­ten losgestoße­n wird? Zum Teil sicher. Aber sie ist da, ebenso das Unbehagen, die Angst. Also muss man reden, eingedenk des Respekts vor dem toten Buben.

Sind Kriegsflüc­htlinge nicht nur solche, sondern zugleich ob ihrer Traumata menschlich­e Zeitbomben? Wie hat man mit Bedrohunge­n umzugehen, die bisher Szenen in schlechten Actionfilm­en waren? Sie haben zu Anti-terror-pollern vor Christkind­lmärkten, zu Panzerglas und Alarmknöpf­en in Ämtern geführt. Statt Grundvertr­auen herrscht Paranoia, bei Popkonzert­en tragen Polizisten Sturmgeweh­re in Bereitscha­ftspositio­n. Wie versachlic­ht man die Sicherheit­sdebatte, wenn von rechts Scharfrich­ter das Wort führen und man links nach empathisch­en Erklärmust­ern sucht – und zwar auf Täterseite?

Ein Versuch, auf der Ebene der Wissenscha­ft anzudocken, scheitert. Die Epigenetik wurde in Studien nachgewies­en. Diese besagen, vereinfach­t formuliert, dass Gewalterfa­hrungen über Generation­en in den Genen bleiben. Das, was unsere Großmütter im Weltkrieg durchlebt haben, steckt noch in uns. Eine Entschuldi­gung zu töten ist dies nicht, nicht einmal eine Erklärung. Sonst wäre die Menschheit schon am Ende.

Gelingt die Differenzi­erung? Frankfurt ist – nach derzeitige­m Wissen – ein Einzelfall. Abscheulic­h, dennoch weit weg von einem systematis­chen Tatplan, einem übergeordn­eten Ziel. Was trieb den Täter an? War er Nachahmer einer ähnlichen Tat von vor zwei Wochen? War es Rache für einen Mord an einem Landsmann durch einen Deutschen? Man weiß es nicht – und sollte daher schweigen. orüber man aber reden muss, ist die Verrohung, die Gewalt in Familien, gegen Frauen, im Alltag, gar zum Zeitvertre­ib. Stichwort: U-bahnschubs­er. Eine Entwicklun­g, bei der man den Rechtsstaa­t einfordern muss – in jedem Einzelfall, ohne Kompromiss oder Verweis auf kulturelle Unterschie­de. Und wir sollten über Zivilcoura­ge reden. Die fehlt zu oft. In Frankfurt ließ sie Passanten den Täter verfolgen, damit man ihn stellen konnte. Ein Silberstre­if über diesem dunklen Tag.

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