Zur Person
Paul Lendvai, geb. am 24. August 1929 in Budapest. Aus jüdischer Familie stammend, überlebte er dank eines Schweizer Schutzpasses. 1957 Flucht aus Ungarn, seit 1959 österreichischer Staatsbürger. War Korrespondent der Financial Times, Chefredakteur der Osteuropa-redaktion des ORF und Intendant von Radio Österreich International.
Autor von fast zwei Dutzend Büchern. Ja, man kann nicht nur jene erreichen wollen, die ohnehin auf einer Linie mit einem selbst stehen. Man muss auch so sprechen, dass man die einfachen Menschen erreicht, weil sie sonst von anderen für ihre Zwecke missbraucht werden. Siehe Nationalsozialismus. Das Phänomen der Masse, wie leicht die Masse zu steuern ist, hat schon der französische Psychiater Gustave Le Bon Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben. Der nationalsozialistische Propagandist Josef Goebbels hat oft betont, dass er Le Bon sorgfältig gelesen hat. Und wenn Sie heute nach Italien schauen – dieser Matteo Salvini! Das ist doch ein Pocket-mussolini. Und das ist sehr gefährlich.
Sie schreiben, dass in unserer schnellen Zeit alte Gewissheiten über Nacht verschwinden. Wie soll man damit umgehen?
Letztlich geht es immer um den Kampf gegen Dummheit und Hass. Deshalb sind die verantwortungsvollen Medien heute wichtiger denn je, denn sie müssen die ganze Vielfalt der Welt zeigen. Ich lese derzeit Arthur Schnitzlers Tagebuch und staune, wie viele Parallelen es einerseits zu heute gibt, und wie froh ich andererseits bin, dass es doch nicht so schlimm ist wie damals. Das Böse gab es immer, aber heute kann es sich schneller verbreiten.
Ist der Mensch fähig, aus der Geschichte zu lernen?
Österreich ist für mich ein wunderbares Beispiel dafür, dass man aus seiner Geschichte lernen kann und klüger wird. Ich hatte Beziehungen zur politischen Elite in allen Lagern, ausgenommen der extremen politischen Linken und politischen Rechten. Und ich habe gesehen, wie der langjährige Generalsekretär der ÖVP, Hermann Withalm, der wegen seiner Härte von den Gegnern gefürchtet und von den Anhängern bejubelt wurde, im Parlament als Klubobmann oft die schärfsten Wortgefechte mit seinem Gegenüber, dem Spö-klubobmann Bruno Pittermann, geführt hat. Als dieser schwer krank war, hat ihn Withalm jede Woche besucht. Es war eine zutiefst menschliche Geste, die erst viel später bekannt wurde. Niemand lernt ohne die historischen und persönlichen Erfahrungen. Niemand wird weise geboren.
Viele sind auch am Ende noch nicht klüger.
Leider. Das kommt mir bei der ewigen Kritik an der EU auch so vor. Was bedeutet es, wenn das Visum wieder eingeführt wird? Wenn die Grenzen wieder hochgezogen werden? Wenn die Kinder nicht mehr ohne Weiteres im Ausland studieren können? Es gibt unglaublich viele Errungenschaften in dieser so außerordentlich oft beschimpften EU. Wirklich schätzt man etwas nur, wenn man es verloren hat. Das sieht man auch an den aktuellen politischen Zuständen in Italien oder Großbritannien. Politclowns und Demagogen spielen dort eine unglaublich wichtige Rolle, auch in den Medien. Schauen Sie sich doch Großbritannien an! Es ist unfassbar, mit welcher Demagogie die Deutschen oder Franzosen heute in britischen Medien beschimpft werden – und das in einer Zeitungslandschaft, die einmal maßgeblich war.
Sie haben eine an Wanderungen reiche Biografie und waren zweimal Flüchtling. 1944 sind Sie mit Ihren Eltern vor den Nazis geflohen, 1957 traten Sie die Flucht nach Österreich vor den Kommunisten an. In den Anfangsjahren in Österreich schrieben Sie unter Pseudonym, zum Schutz Ihrer Mutter, die in Budapest geblieben war. Wie nannten Sie sich?
In der „Presse“war ich György Hollo – das war sehr dumm, weil die Ungarn sofort wussten, das kann nur ein Ungar sein. Dann schrieb ich als Árpád Becs – Becs ist Wien auf Ungarisch. Für englische und amerikanische Zeitungen schrieb ich als Paul Landy. Das war bis 1962 so, bis meine Mutter, nachdem mein Vater gestorben war, nach Wien kommen konnte. Einmal traf ich in Washington einen Professor, der mir von den Artikeln eines gewissen George Hollo erzählte.
Sie zitieren in „Die verspielte Welt“den Soziologen Max Weber, der in seiner berühmten Schrift „Politik als Beruf“schreibt, dass für den Politiker eine der entscheidenden Qualitäten die Leidenschaft sei. Hapert es heutzutage daran?
Weber hat auch gesagt, dass man nichts erreicht, wenn man nicht das Unmögliche erreichen möchte. Österreichs „Sonnenkönig“Bruno Kreisky, eine Bezeichnung, die übrigens von meinem besten Freund Kurt Vorhofer stammt ...
... Kurt Vorhofer war langjähriger Leiter der Wiener Redaktion der Kleinen Zeitung ...
... und der vielleicht beste unabhängige Journalist der Zweiten Republik. Jedenfalls ist Bruno Kreisky bis ins hohe Alter, selbst als er nur noch eine Niere hatte und halb blind war, ein leidenschaftlicher Mensch geblieben. Für den legendären Bundeskanzler war Macht dazu da, um etwas zu machen, etwas für die Menschen zu machen.
Die kürzlich verstorbene ungarische Philosophin Ágnes Heller hatte ein Problem damit, dass man Politiker wie Orbán „Populisten“nennt. Populisten, auch wenn sie Demagogen sind, würden sich nie aufseiten der Wohlhabenden stellen, sondern aufseiten des Volks. Leute wie Orbán aber hätten Oligarchien geschaffen, deren Wohlstand nur ihnen selbst zugutekomme. Wie sehen Sie das?
Heller, mit der ich befreundet war, hatte wie immer recht. Und es handelt sich bei diesen neuen Populisten um ein ganz eigenartiges System, in dem eine kleine Gruppe an der Spitze umgeben von Feudalismus ist, samt einer breiten Schicht von Dienern, die verdienen. Es sind all die kleinen und großen Oligarchen, die Länder wie Ungarn zugrunde richten.
Ágnes Heller sagte auch: „Jeder will nur das Gute: Wenn er allein mit sich ist.“Wie sehen Sie das?
Um das beantworten zu können, muss man eine Philosophin sein, nicht Publizist.