Anklage des Systems
Viel Applaus für Roman Polanskis neuen Film
Der Titel, den Roman Polanski seinem neuen Film gegeben hat, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. „J’accuse“– „Ich klage an“. Das passt nur zu gut zur Debatte um die umstrittene Einladung des 86-Jährigen in den Wettbewerb von Venedig. Seine Teilnahme brachte alles noch einmal auf den Tisch: die Vorwürfe der Vergewaltigung und sexueller Übergriffe und Sex mit einer Minderjährigen. „J’accuse“sorgte entsprechend für Wirbel. Polanski selbst war nur wenige Sekunden als Statist auf der Leinwand zu sehen. Und nach der Pressevorführung bekam der Film zwar recht starken Applaus.
Dessen Titel bezieht sich auf einen Brief, den Émile Zola im
Zuge der sogenannten Dreyfus-affäre von 1895 veröffentlichte. Louis Garrel verkörpert den jüdischen Artilleriehauptmann, der unschuldig des Landesverrats verurteilt wurde. Dujardin spielt den neuen Leiter des französischen Geheimdienstes, der die Affäre entschlossen aufdeckte.
„J’accuse“lässt den weitverbreiteten Antisemitismus in der damaligen Gesellschaft einfließen und reicht mit mancher Parallele ins Heute, während nicht nur bei der Ausstattung die Geschehnisse um Wahrheit und (Un-)recht, Verdrehungen und Vertuschungen detailversessen rekonstruiert werden. Das ist von Polanski trocken inszeniert. Doch nicht nur die Bilder dieses Historienkrimis wirken dabei oft wie gemalt. Er hält auch das nötige Maß an subtiler Spannung. Die Einladung des Films in den Wettbewerb lässt sich also rechtfertigen – zumindest für all jene, die zwischen Künstler, Persönlichkeit und Werk trennen.
Sascha Rettig, Venedig