Jung, smart, aber zu wenig Masse
Für den Kreml sind die Proteste ein Ärgernis, aber noch keine echte Bedrohung.
Eine junge Frau mit einem Seidentuch im Kragen ihres Safarihemdes hält ein Schild hoch: „Politische Repressionen. Ich stehe darüber. 1937–2019“. Ihr Hinweis auf das stalinistische Terrorjahr 1937 kommt wirklich von hoch oben. Ihre auf Falte gebügelten Hosenbeine wollen nicht enden, das Mädchen ist mindestens 1,90 Meter groß.
Moskaus Straßenopposition ist jung, smart und ironisch. Ihre Proteste in der russischen Hauptstadt begannen im Juli, nachdem die Behörden fast alle unabhängigen Kandidaten von den Stadtratswahlen an diesem Sonntag ausgeschlossen hatten. Der Unmut wuchs mit der Zahl festgenommener Aktivisten, Anfang August versammelten sich mehr als 20.000 Menschen einer nicht genehmigten Aktion im Zentrum, mehr als tausend Teilnehmer nahm die Polizei zum Teil brutal fest. Trotzdem kamen am folgenden Wochenende 60.000 Moskauer zu einer genehmigten Kundgebung, die größte Protestdemonstration seit 2012. Gerade wegen der rabiaten Reaktionen der Sicherheitsorgane glauben viele Beobachter, Staatschef Wladimir Putin habe Angst bekommen. „Der Niedergang des Putinismus steht außer Frage“, schrieb die „New York Times“.
Aber es ist wieder stiller geworden. Am Samstag wagten sich noch 3000 Oppositionelle zum Protestmarsch von der Metrostation Tschistyje Prudy zum Puschkin-platz. „Darunter 1000 Journalisten und Polizeispitzel“, klagt eine Demonstrantin scherzend.
Viele Demonstranten reden von Angst. Oder von der Angst ihrer Freunde, die nicht gekommen sind. Aus Furcht um Job, Studienplatz oder vor Gummiknüppeln. Der Student Wladimir, 24, sagt, viele Bekannte wollten nicht mehr mit ihm verkehren, weil er an den Protesten teilnimmt. „Wenn sich in den nächsten fünf Jahren nichts ändert, dann verlasse ich das Land, ich denke an Prag.“
Die Weltöffentlichkeit staunt über die scheinbar blinde Brutalität, mit der die Polizei auf friedliche Oppositionelle eindrischt. Oder über drakonische Strafen für mutmaßliche Gezu