Die dunkle Seite der Macht
Der Brexit-deal steht endlich im Finale. Hat man also eine gute Lösung zum Wohl der Bürger gefunden? Ja, vor allem aber zum Wohl eines einzigen. Der ist zufällig Premier.
Erinnern wir uns doch an den Herbst 2018, es muss November gewesen sein: Stolz präsentierten Theresa May, Michel Barnier und die ganze Eu-riege ein dickes Vertragswerk. 585 Seiten, die den Rahmen für die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU abstecken sollten. Auf den Tag der Freude folgten Monate des Jammers; in London war das Papier nicht durchzubringen, im innenpolitischen Chaos, das schließlich im Rücktritt Mays gipfelte, war es vor allem der berühmte „Backstop“, der zur Stolperfalle wurde. Eine Rückversicherung, die für den Fall, dass alle künftigen Verhandlungen schiefgehen, eine harte Grenze auf der irischen Insel vermeiden sollte, das Königreich aber in eine unerwünschte Zollunion mit der EU gezwungen hätte. Der Backstop war das Um und Auf, das Mantra diesseits und jenseits des Ärmelkanals, mit unveränderbaren Positionen.
Ja wie, und plötzlich gibt es einen Vorschlag, der völlig ohne den verhassten Backstop auskommt – und der noch dazu (fast) alle glücklich macht? Jean-claude Juncker, der alte, schlaue Fuchs, fand wie immer die passenden Worte: „Wo ein Wille, da ein Deal.“Wer plötzlich wollte, war Boris Johnson, britischer Premierminister und Enfant terrible seiner Zunft. Johnsons plötzlicher Sinneswandel, der letzte Woche beim Treffen mit dem irischen Amtskollegen Leo Varadkar zum Ausbruch kam, ist wohl ebenso wenig dem Mitgefühl für die Bürger und ihr Wohlergehen zuzuschreiben wie die ganze Brexit-geschichte. Johnson, der als früherer Eu-korrespondent in Brüssel ganz sicher ein Gefühl für die nötige Polit-dramaturgie hat, hat schlicht die Gunst der Stunde erkannt. So ist das, wenn man an der Macht ist.
Sein Entgegenkommen so knapp vor dem drohenden Nodeal-austritt, so knapp vor dem entscheidenden Eu-gipfel und so knapp bevor ihm das Unterhaus völlig um die Ohren fliegt, bietet ihm die einmalige Chance, in die Geschichte einzugehen – nicht als der Chaotiker, der er wohl ist, sondern als jener Premier, der die Briten mit einem Vertrag in den Brexit geführt hat. Ein Kunststück, an dem May gescheitert ist. Ob in letzter Sekunde auch Johnson dieses Schicksal teilt, wissen wir am Samstag nach der Abstimmung in Westminster. er EU und Johnson ist aber zumindest eine Lösung gelungen, mit der die Hauptbetroffenen, die Iren, offensichtlich leben können (wie sich die DUP entscheidet, werden wir sehen; immer noch gibt es Berichte, sie würden sich mit Versprechen in Milliardenhöhe ködern lassen). Ironisch ist, dass Johnson den Iren auch in Zukunft nicht auskommt, an einem ganz anderen Schauplatz. In den USA, mit denen er lieber heute als morgen zünftige Handelsverträge abschließen will, sitzen die Nachkommen der Iren in maßgeblichen wirtschaftlichen und vor allem politischen Positionen.
Sie beobachten mit Argusaugen, wie das Vereinigte Königreich mit dem Land ihrer Ahnen umgeht. Und werden nicht zögern, entsprechend zu handeln.
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