Kein Sieg der Vernunft
Die Briten sollen in einer historischen Wahl, in einem völlig aufgeheizten Klima und erneut auf Basis überzogener Versprechen über die Zukunft der Nation entscheiden.
Das muss man sich einmal vorstellen: Am Donnerstag sind die Briten an die Wahlurnen gerufen, und gleich zwei ehemalige Premierminister werben öffentlich dafür, ihren eigenen Nachfolger und Parteikollegen nicht zu wählen. John Major, einst Chef der Konservativen, riet dem Wahlvolk, jene drei Kandidaten zu unterstützen, die aus der Tory-partei ausgetreten sind – weil sie damit gegen den Brexit-kurs von Boris Johnson protestieren wollten. Tony Blair wiederum, früher Chef der Labour-partei, empfahl den Bürgern, taktisch abzustimmen und jene Kandidaten zu unterstützen, die den Brexit verhindern wollen. Also zum Beispiel die Liberaldemokraten. Von Labour-chef Jeremy Corbyn ist nämlich bis heute nicht eindeutig bekannt, wie er’s nun hält mit der EU.
Zu beneiden sind die Wähler nicht. In einer Wahl, die Premier Johnson vom Zaun gebrochen hat, weil er seine Brexit-pläne nicht so rasch durchs Parlament brachte, wie er sich das wünschte, sollen die Bürger jetzt zustande bringen, worin ihre politischen Repräsentanten fulminant versagten, nämlich Klarheit zu schaffen und über die Zukunft zu entscheiden. Mit der Wahl eines neuen Parlaments sollen auch die Weichen für den Brexit-kurs gestellt werden. Kann das gelingen?
Man würde meinen, eine Entscheidung von der Tragweite des Eu-ausstiegs müsste mit kühlem Kopf getroffen werden. Stattdessen ist die Stimmung völlig aufgeheizt: Die „Sunday Times“warnte, das „gefährliche Programm“der Labour-partei werde das Land „ins Negative“führen. Der „Observer“verkündete dagegen, das Wahlergebnis werde darüber bestimmen, „ob das Großbritannien, das wir kennen, in der nächsten Generation noch existieren wird“. Die Wortwahl der führenden Kandidaten ist nicht weniger dramatisch. Und auch, was sie versprechen, hat mit der Realität nur bedingt zu tun: Konservativen-chef Johnson, der versucht, die Brexit-anhänger hinter sich zu scharen, wiederholt gebetsmühlenartig, er habe einen „fantastischen Deal“mit der EU – wohl wissend, dass bisher nur das Prozedere für den Austritt ausgehandelt wurde. Wie die Beziehungen mit dem wichtigsten Handelspartner künftig aussehen werden, darüber haben die Verhandlungen noch nicht einmal begonnen.
Das Lager der Brexit-gegner dagegen ist auf mehrere Parteien aufgespalten. Dazu kommt der Schlingerkurs von Labourchef Corbyn, der mit der EU überhaupt neu verhandeln will – so sie denn will – und ein Referendum verspricht. Im Wahlkampf setzte Corbyn aber auf ganz andere Themen – das marode Gesundheitswesen, die Pflegekrise, Kinderarmut. Alles wichtige Fragen, doch ein Beitrag zu einer sachlichen Debatte über die Folgen der Brexitentscheidung sind sie nicht. mfragen sagen Johnson den Sieg voraus, doch könnte dieser zu knapp ausfallen, um Johnson eine absolute Mehrheit und klare Brexit-entscheidungen zu ermöglichen. Ein neuerliches Patt wäre zermürbend: für die Briten und für Europa.
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