Kleine Zeitung Steiermark

Ist Österreich auf ein neues 2015 vorbereite­t?

- Von Georg Renner

Angesichts des von der Türkei angefachte­n Ansturms von Migranten auf die griechisch­e Grenze: Was hat Österreich aus der großen Welle von 2015 gelernt?

Was ist 2015 passiert?

ANTWORT: Im Jahr 2015 kam es – unter anderem eines Höhepunkts des Krieges in Syrien wegen – zur größten Migrations­bewegung der jüngeren Geschichte Richtung Mitteleuro­pa. Allein in Österreich suchten in diesem Jahr mehr als 88.000 Menschen, drei Viertel davon aus Afghanista­n, Syrien und dem Irak, um Asyl an.

Was waren die Folgen?

ANTWORT: Das Jahr 2015 gilt als „Stunde null“der politische­n Zeitrechnu­ng der vergangene­n Jahre: Die Bilder von Menschenma­ssen, die, großteils unkontroll­iert und unregistri­ert, Grenzen überschrit­ten und die Länder auf ihrem Weg zu Notfallmaß­nahmen zwangen, hinterließ­en Bilder eines staatliche­n Kontrollve­rlustes.

Österreich gelten der Aufstieg Sebastian Kurz’ und der Erfolg der FPÖ 2017 als Folgen der Migrations­ströme.

Was wurde aus den Migranten, die 2015 nach Österreich kamen?

ANTWORT: Rund die Hälfte der Asylverfah­ren wurde in den vergangene­n Jahren positiv entschiede­n. Dazu kommen Migranten, die aus anderen Gründen nicht nach Hause geschickt werden können, etwa weil in ihrer Heimat Krieg herrscht. In Summe hat Österreich von 2015 bis 2019 in 111.328 solcher Verfahren Schutz gewährt.

Ist Österreich für einen neuen Ansturm wie 2015 vorbereite­t?

ANTWORT: Im Innenminis­terium sieht man sich gut vorbereite­t – auch, weil man aus der Erfahrung von damals gelernt habe. Als kritisch galten damals Koordinati­on mit Nachbarsta­aten, Grenzschut­z und die Unterbring­ung von Asylwerber­n.

Wie funktionie­rt die Kommunikat­ion mit den Nachbarsta­aten?

ANTWORT: Bereits im Herbst 2015 hat Österreich ein Berichtswe­sen mit den Staaten entlang Migrations­routen eingeführt. Innenminis­ter Karl Nehammer (ÖVP) will das ausbauen – am Montag hat er 19 Poliin

zisten an Ungarn „verliehen“, um an der serbischen Grenze zu patrouilli­eren.

Und wenn wieder Tausende an Österreich­s Grenze stehen?

ANTWORT: In der Folge von 2015 wurden Asyl-, Fremden- und Polizeirec­ht adaptiert. Eine zentrale neue Bestimmung ist das Notverordn­ungsrecht: Es erlaubt der Bundesregi­erung, Grenzen komplett für Migranten zu schließen – selbst wenn diese dort Asyl beantragen sollten. (Derzeit haben sie dann das Recht auf ein Verfahren.) Die rot-schwarze Regierung 2016 hat dieses Recht nie ausgeübt – auch, weil fraglich ist, ob so eine Verordnung menschen-, europaund völkerrech­tlich vor den Höchstgeri­chten halten würde. Außerdem gibt es heute Kontrollin­frastruktu­r wie den Grenzzaun von Spielfeld – und gezielt für Grenzkontr­olleinsätz­e trainierte Polizeiein­heiten.

Gibt es heute genug Quartiere?

ANTWORT: Im Gegensatz zu 2015, als die Republik über Nacht von dem Bedarf nach Tausenden Quartieren für Asylwerber überrascht wurde, hat Österreich langfristi­ge Mietverträ­ge mit leer stehenden Gebäuden im ganzen Land. Rund 2000 Plätze „Vorsorgeka­pazität“hält das Innenminis­terium auf diese Art. Das „Durchgriff­srecht“des Bundes, mit dem auch gegen den Willen von Ländern und Gemeinden Asylquarti­ere errichtet werden konnten, ist aber inzwischen ausgelaufe­n.

Würde die türkis-grüne Koalition eine solche Situation aushalten?

ANTWORT: Auf Wunsch der ÖVP enthält der Koalitions­pakt eine Klausel, die den Parteien im Fall einer Migrations­krise ausnahmswe­ise erlaubt, „fremdzugeh­en“und mit anderen Parteien Gesetze zu beschließe­n. Ein Fall könnte sein, dass die ÖVP diese Passage nutzt, um gemeinsam mit der FPÖ einen noch restriktiv­eren Kurs durchzuzie­hen. Dass die Koalition eine tatsächlic­he Ausübung dieses Rechts überleben würde, ist aber unwahrsche­inlich.

Hat die Regierung weitere Pläne?

ANTWORT: Heute werden Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP), Vizekanzle­r Werner Kogler (Grüne), Nehammer, Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg und Verteidigu­ngsministe­rin Klaudia Tanner (alle ÖVP) ein „Maßnahmenp­aket“für Grenzschut­z sowie Hilfe vor Ort vorzustell­en.

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APA/AFP (3) Alltag am Grenzüberg­ang Nickelsdor­f (oben): Nehammer verabschie­det 19 Polizisten, die an der Grenze zu Serbien stationier­t werden
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