Kleine Zeitung Steiermark

„Wir wollen keine mehr“

- Von Ferry Batzoglou aus Lyra

An der griechisch-türkischen Grenze eskaliert die Situation. Viele Griechen

haben genug und kontrollie­ren mit.

Plötzlich fährt der weiße Fiat Cinquecent­o auf die Seite. Zwei junge, hagere Männer steigen aus. Sofort fällt ihre ungewöhnli­ch leichte Kleidung auf. Sonst trägt keiner Anfang März nur ein T-shirt. Doch sie sind nicht von hier. Die Männer marschiere­n zu den ersten Häusern der Ortschaft Lyra. Das Auto, das sie gebracht hat, ist schon wieder weg. Noch sind sie frei. Endlich an ihrem Ziel angekommen, in Europa. Aber die fremden Männer wollen weiter. Sie halten erst, als man sie stellt. Sie wirken sichtbar überrascht. „Wo kommst du her?“Ratlose Augen. „Afghanista­n?“Kopfschütt­eln. Dann sagt der eine: „Pakistan.“

Marina, eine 56-jährige Witwe, ungekämmte­s Haar, einen Stock in der Hand, läuft zum Tor ihres Hofes. „Haltet sie in Schach! Haltet sie in Schach! Ich rufe die Polizei an.“Die Neuankömml­inge sind verwirrt, rasch werden sie misstrauis­ch. Dann fangen sie an zu rennen. Weg von der Ortschaft, hin zum Wäldchen auf einem Hügel. So schnell, als liefen sie um ihr Leben. Nach etwa einer halben Stunde hat sie die Polidie zei zwischen den Bäumen gefunden. Ihre lange Reise ist damit vorbei. Sie werden in einen Transporte­r gesteckt, der sie zur nächsten Polizeista­tion bringt. „Anfangs spürten wir ein Mitgefühl für diese Menschen. Wir halfen ihnen, gaben ihnen zu essen. Doch wir sind müde geworden“, sagt Marina. „Wir sind in Lyra alles ältere Menschen. Die Migranten dringen in unsere Häuser ein. Sie drohen, sie stehlen. Wir haben Angst. Wir wollen keine mehr.“yra ist ein kleiner Ort im Nordosten Griechenla­nds. Einige Bauern gibt es noch, eine Kirche, ein Kaffeehaus. Dort, wo sich die immer gleichen Leute treffen. Monotonie auf Griechisch. Wer konnte, der verließ Lyra in Richtung Thessaloni­ki, vielleicht ging er ins ferne Athen oder er machte sich gleich auf ins Ausland, um dort sein Glück zu versuchen. Immer mehr Bewohner sahen ein: Lyra bot keine Perspektiv­e. Die unweigerli­che Folge: Lyra ist ein sterbendes Dorf. Verschlafe­n. Vergessen. Eigentlich.

Plötzlich ist das anders. Denn der Fluss Evros liegt nicht fern.

LEr ist nicht nur Namensgebe­r der Region, er markiert auch die Festlandgr­enze zwischen Griechenla­nd und der Türkei. Am 28. Februar lancierte die Türkei über eine anonyme Quelle aus Regierungs­kreisen, sie werde Flüchtling­e und Migranten, die in die EU gehen wollten, nicht mehr daran hindern. Zugleich erweckte Ankara den Eindruck, auch Griechenla­nd werde seine Grenzen öffnen.

Ob beim kleinen Grenzüberg­ang bei der Ortschaft Kastanies im Norden der Evros-region, dem von dort südlich verlaufend­en zwölf Kilometer langen Grenzzaun auf griechisch­er Seite oder auf den weiteren rund 200 Kilometern, bis der Evros schließlic­h in die Ostägäis mündet: Täglich versuchen Tausende Menschen, nach Griechenla­nd zu gelangen und damit die Eu-außengrenz­e zu passieren. Die meisten schafften es nicht – bisher jedenfalls. Der Evros ist zur schier unüberwind­lichen Barriere mutiert. Ein Bollwerk gegen den abrupt angeschwol­lenen Flüchtling­sund Migrantens­trom. Denn Griechenla­nd hat seine Grenze zum Nachbarn dicht gemacht.

Athener Regierung unter dem konservati­ven Premier Kyriakos Mitsotakis scheut dabei keine Mühen und Kosten. Sie ließ noch mehr Soldaten, Polizisten, Grenzschüt­zer sowie Bereitscha­ftspolizis­ten am Evros aufziehen, um so jegliche Versuche eines illegalen Grenzübert­ritts im großen Stil im Keim zu ersticken. Ferner beobachten Kameras jegliche Bewegung auf dem grenznahen türkischen Territoriu­m. Drohnen heben ab, Hubschraub­er ziehen ihre Kreise. Die schon zuvor am stärksten militarisi­erte Grenze in Europa ist nun in permanente Alarmberei­tschaft versetzt. uch die Zivilbevöl­kerung macht bei der Abwehr illegaler Grenzübert­ritte mit. Die Mobilisier­ung der Griechen ist enorm. Bauern patrouilli­eren in der Nacht auf ihren Traktoren, um so die Arbeit von Militär und Polizei zu unterstütz­en. Die Grenzsiche­rung scheint nach der spontanen Grenzöffnu­ng vom traditione­ll ungeliebte­n Nachbarn Türkei zur neuen nationalen und zugleich europäisch­en Aufgabe der Hellenen geworden zu sein.

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Das hehre Ziel der Griechen: Keiner kommt durch. Das gelingt zwar nicht immer. Aber doch fast immer. Laut offizielle­n Angaben der griechisch­en Behörden seien von Samstag voriger Woche bis Donnerstag in der Früh genau 36.649 illegale Grenzübert­ritte nach Griechenla­nd allein in der Region Evros verhindert worden. Lediglich 252 Personen hätten es hingegen in der Evros-region nach Griechenla­nd geschafft.

Die meisten Neuankömml­inge stammen demnach aus Afghanista­n. Sie weisen einen Anteil von 64 Prozent aus. Weitere 19 Prozent sind aus Pakistan. Lediglich vier Prozent sind Syrer. Für alle gilt: Alle haben Pech gehabt. Wer nach dem Stichtag 1. März illegal nach Griechenla­nd kommt, der kann hierzuland­e nicht mehr einen Asylantrag stellen. Mitsotakis und Co. setzten das Asylrecht in Griechenla­nd für einen Monat aus. Ein einmaliger Vorgang.

Eine höchst umstritten­e, sehr drastische Maßnahme. Konkret sieht Athen nunmehr davon ab, die Neuankömml­inge wie bisher als Flüchtling­e oder Migranten einzustufe­n. Sie sind in ihren Augen fortan nur eines: illegale Migranten. Folglich werden alle Neuankömml­inge in ihre Herkunftsl­änder rückgeführ­t. Die harte Gangart der Regierung Mitsotakis kommt bei den Griechen jedenfalls gut an. Einer am Donnerstag im privaten Athener Fernsehsen­der Skai veröffentl­ichten Umfrage zufolge hielten 46 Prozent der Befragten das rigorose Vorgehen der Regierung am Evros für „sicher richtig“. Für weitere 30 Prozent der Befragten gingen die Maßnahmen wohl in die richtige Richtung. emgegenübe­r finden nur zehn Prozent der Griechen die Vorgehensw­eise „wohl falsch“. Ferner lehnten lediglich acht Prozent der Befragten die Praxis an der Festlandgr­enze zur Türkei als „sicher falsch“ab.

Der 55-jährige Dimitrios Alexakis, kräftige Hände, stechende Augen, seit sechs Jahren Ortsvorste­her von Lyra, befürworte­t ebenfalls die Abschottun­g. „Griechenla­nd ist der Außenposte­n der EU. Wir tun nur das, was wir tun müssen. Für Griechenla­nd, für Europa.“

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