Infame Instrumentalisierung
Wer instrumentalisiert die Wirklichkeit in unzulässiger, wer in zulässiger Weise? Auf Anhieb ist dies nicht zu entscheiden. Aber es ist auch infam, so zu tun, als stünde man selbst mit seinen Urteilen und Forderungen auf objektivem Boden.
An der Wirklichkeit kann sich jeder vergreifen. Kaum ein Ereignis, eine Tragödie, eine Epidemie, die nicht für politische, ideologische und weltanschauliche Interessen in Dienst genommen werden kann. Instrumentalisierung lautet das dafür zuständige Zauberwort, und sosehr Einigkeit darüber herrscht, dass der Missbrauch von Leiderfahrungen anderer für eigene Zwecke verwerflich ist, so sehr ist niemand davor gefeit, genau das immer wieder zu tun.
Über das komplexe Psychogramm des Mehrfach-mörders von Hanau war noch kaum etwas bekannt, da war klar, dass jetzt nicht nur gegen gewaltbereite Extremisten, sondern gegen rechte Politik und die dahinter vermuteten geistigen Brandstifter überhaupt mobilisiert werden musste. Umgekehrt sind die launigen Überlegungen, die auf einer Parteiveranstaltung von der Linken, die immerhin in einem Bundesland wieder einen Ministerpräsidenten stellt, geäußert wurden, ob man nach der Revolution die Reichen besser erschießen oder doch lieber arbeiten lassen soll, für manche Beleg genug, dass endlich Schluss sein muss mit dem blauäugigen Adorieren egalitärer Ideen. nd erst das Coronavirus! Wer seit Langem vor den Folgen der Globalisierung und einer haltlosen Mobilität
Uwarnte, wird sich bestätigt fühlen und Grenzschließungen in jeder Hinsicht begrüßen; die Anhänger des Freihandels wiederum fürchten um ebenjenen in Zeiten der Pandemie und sehen im weltweiten Austausch von Waren, Personen und Ideen den besten Schutz gegen Infektionen aller Art.
Wer, wie der Us-amerikanische Außenminister, aus der Krankheit geopolitisches Kapital schlagen will, wird süffisant vom Wuhan-virus sprechen, wer sein Leben dem Kampf gegen den Rassismus gewidmet hat, wird in jeder Reisewarnung und jeder gruppenbezogenen Kontrolle der Körpertemperatur ein fremdenfeindliches Ressentiment erblicken. Und wer seit geraumer Zeit die Verharmlosung unerwünschter sexueller Belästigungen beklagt, wird die neuen Abstandsregeln begrüßen und im Virus einen überraschenden Verbündeten für feministische Ansprüche finden. er instrumentalisiert die Wirklichkeit in unzulässiger, wer in zulässiger Weise? Auf Anhieb ist dies nicht zu entscheiden, fraglich, ob diese Differenzierung überhaupt sinnvoll ist. Seit Immanuel Kant wissen wir, dass wir prinzipiell nicht in der Lage sind zu erkennen, wie die Wirklichkeit an sich beschaffen ist. Diese tritt stets nur für uns in Erschei
Wnung. Für uns: Das heißt, dass wir alles unter den Bedingungen unserer Einstellungen, Präferenzen, Anschauungen und Überzeugungen wahrnehmen und beurteilen. Um Paul Watzlawick abzuwandeln: Es ist nicht möglich, die Wirklichkeit nicht zu instrumentalisieren. Manchmal mag dies tatsächlich so vordergründig und Betroffenen gegenüber so unverhohlen gemein geschehen, dass von einer infamen Instrumentalisierung gesprochen werden kann.
Aber es ist auch infam, so zu tun, als stünde man selbst mit seinen Urteilen und Forderungen auf objektivem Boden, und nur die anderen, vor allem die politischen Gegner, erfrechten sich wieder einmal, ein Ereignis für ihre sinistren Absichten zu missbrauchen. esser wäre es, sich bewusst zu sein, wie groß die Verlockung ist, die Welt in Hinblick auf ihre Verwertbarkeit für die eigenen Anliegen und Absichten zu betrachten. Um dabei wenigstens etwas vorsichtiger zu verfahren, genügte es, sich vorzustellen, wie die Dinge sich aus der Perspektive von anderen Menschen ausnähmen, deren interessengeleitete Wahrnehmung nicht weniger legitim sein mag als die eigene. Die Wirklichkeit selbst ist vielfältig, offen und sehr tolerant. Sie bietet allen etwas.
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