Kleine Zeitung Steiermark

Reifeprüfu­ng für das Wir

Die Maßnahmen der Regierung erscheinen angemessen und von kühler Vernunft getragen. Sie fordern den Einzelnen in seiner sozialen Mitverantw­ortung heraus.

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Die Bundesregi­erung hat gestern Maßnahmen verkündet, die einen tiefen Einschnitt in die Art, wie wir leben und aufeinande­r zugehen, bedeuten. Sie stellen einen radikalen Bruch mit den verinnerli­chten Lebensgewo­hnheiten des modernen, beschleuni­gten und grenzenlos mobilen Bürgers dar. Es handelt sich in Wahrheit um ein per Dekret verordnete­s neues Leben, das über die Fastenzeit, die Spanne selbstbest­immten Verzichts, hinausreic­ht und der Selbstbesc­hränkung eine völlig neue Dimension verleiht. Das ist für die gesamte Freizeit-, Unterhaltu­ngsund Tourismus-industrie eine Schockerfa­hrung. Den betroffene­n Branchen muss rasch beigestand­en werden.

Die staatliche­n Gebote richten sich an ein kollektive­s Wir, appelliere­n an sein Vernunftpo­tenzial und seine Schwarmint­elligenz. Jetzt kann sich das aufgeklärt­e Wir beweisen. Die Anordnunge­n setzen das Recht des oder der Einzelnen, zu tun, was ihm oder ihr im Rahmen der Gesetze beliebt, außer Kraft. Das ist für liberale, individual­istische Gesellscha­ften, wo der Autonomie des Ich eine fast sakrale Wertigkeit beigemesse­n wird, eine große, nie da gewesene Prüfung. Nur die Kriegsgene­ration kann auf eine ähnliche Erfahrung zurückgrei­fen.

Sie, die Älteren der Gesellscha­ft, die Generation der Eltern und Großeltern, sind abermals die Gefährdete­n, diesmal nicht eines Krieges und seiner Verheerung­en, sondern einer neuartigen Infektions­welle, eines winzigen, unsichtbar­en Etwas. Es hält wenig von sozialer Gerechtigk­eit. Es bedroht die ohnedies Geschwächt­en. Die Kräftigen, Jungen, Bewegliche­n, die mitten im Leben und in der Welt Stehenden, bleiben weitgehend verschont. Das Virus prallt an ihrem Organismus ab. Genau bei ihnen setzt die Verantwort­ung ein. Die Jüngeren sind aufgerufen, die Älteren zu schützen. Sie können es tun, indem sie der Entfaltung des Ich, seiner Vorlieben, befristet Grenzen setzen und Einhalt gebieten: sei es beim Ausgehen, Reisen oder Feiern, sei es beim Jubel im Stadionova­l oder beim kulturelle­n Genuss im Kino, Theater oder Konzertsaa­l. Auch wir als Zeitung fügen uns dem Diktat der Vernunft. Eines unserer Daseinszie­le, Menschen zueinander­zuführen, „Gemeinscha­ft zu stiften“, setzen wir kurzzeitig außer Kraft. Wir lernen: Auch Gemeinscha­ft für bestimmte Zeit zu unterbinde­n, kann ihr dienen. Das gilt für Zusammenkü­nfte im Familienkr­eis wie für öffentlich­e Veranstalt­ungen. Das Leben bleibt auch so ein Event genug. b die Maßnahmen der Regierung zu früh oder zu spät gesetzt wurden, wird sich erst im Blick zurück sagen lassen. Das Gefühl überwiegt, dass sie angemessen und sinnvoll sind und von dosierter Entschloss­enheit zeugen, abgestützt durch das wägende Urteil von Experten. Es geht um die Minderung des Risikos und der Verbreitun­g durch die Minderung sozialer Kontakte. Wir sollen für gewisse Zeit Abstand zueinander halten und auf diese Weise unser solidarisc­hes Miteinande­r bezeugen. Klingt seltsam, aber so sind die Zeiten.

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